Altersbedingte Makuladegeneration: Hoffnung auf präventive Behandlung?

Potentiellen neuen Mechanismus für Sehverlust entdeckt
lz
Mikroskopische Aufnahmen von im Labor gezüchteten Mini-Netzhäuten
Mikroskopische Aufnahmen von im Labor gezüchteten Mini-Netzhäuten* © Völkner et al., Nat. Comm., 2022
Newsletter­anmeldung

Bleiben Sie auf dem Laufenden. Der MT-Dialog-Newsletter informiert Sie jede Woche kostenfrei über die wichtigsten Branchen-News, aktuelle Themen und die neusten Stellenangebote.


Mit Netzhaut-Organoiden konnten komplexe Veränderungen der Netzhaut beobachtet werden, wie sie bei der Makula-Degeneration auftreten. Die entdeckte sogenannte Zell-Extrusion kommt als neuer potentieller Mechanismus für neurodegenerative Erkrankungen der Netzhaut infrage.

Möglicherweise sterben Sehzellen in der menschlichen Netzhaut bei einigen Erkrankungen nicht einfach ab, sondern werden zuvor mechanisch aus dem Gewebe befördert. Das fanden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) und vom Zentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD) an der TU Dresden sowie vom Umweltforschungszentrum Leipzig (UFZ) jetzt heraus. Für ihre Forschung nutzten sie im Labor hergestellte menschliche Mini-Netzhäute, sogenannte Organoide. Die Erkenntnisse könnten in Zusammenhang mit der altersbedingten Makuladegeneration (AMD) den Weg für gänzlich neue Forschungsansätze ebnen.

Photorezeptoren gingen verloren

„Dieses Prinzip, das als Zell-Extrusion bezeichnet wird, wurde bislang noch nicht bei neurodegenerativen Erkrankungen untersucht“, sagt Prof. Dr. Mike Karl, der die Forschungsgruppe leitet. AMD ist die Hauptursache für Erblindung und schwere Sehbehinderung in Deutschland. Schätzungen zufolge leidet ein Viertel der Menschen über 60 Jahren an AMD. Die Makula ist eine spezielle Region der menschlichen Netzhaut, die unter anderem für das scharfe Farbensehen benötigt wird. Bei der AMD sterben in der Makula tausende lichtempfindliche Sehzellen ab, die sogenannten Photorezeptoren. „Das war der Ausgangspunkt für unser Forschungsprojekt: Wir haben beobachtet, dass Photorezeptoren verloren gehen, konnten aber in der Netzhaut keinen Zelltod feststellen“, erklärt Mike Karl, der am Dresdner Standort des DZNE und am CRTD tätig ist. „Die Hälfte aller Photorezeptoren ist innerhalb von zehn Tagen aus dem Netzhaut-Organoid verschwunden, aber offenkundig sind sie nicht in der Netzhaut gestorben. Das hat uns neugierig gemacht.“

Mechanisches Ausstoßen von Zellen

Für die Forscherinnen und Forscher begann eine aufwendige Fahndung nach den Ursachen. Dadurch landeten sie bei einer Studie aus dem Jahr 2012 (DOI: 10.1038/nature10999). Damals hatten Jody Rosenblatt et al. vom King’s College in London erstmals die Extrusion lebender Zellen beschrieben – das mechanische Ausstoßen von Zellen aus einem Gewebe. Die dadurch außenliegenden Zellen sterben dann erst in Folge ab. Sie wies diesen Mechanismus an einfachen Epithelzellen der Niere nach. Mike Karl und sein Team zeigten jetzt in ihrer Arbeit, dass diese Extrusion auch in der viel komplexeren Netzhaut, bestehend aus mehreren verschiedenen Zellarten, ausgelöst werden kann und zu Degeneration führt. Schon zuvor fanden Forscherinnen und Forscher heraus, dass sich bei AMD-Patientinnen und -Patienten einige Zellen außerhalb der Netzhaut befanden. Die Ursache dafür war bislang allerdings nicht bekannt. Die Zell-Extrusion könnte jetzt die lange fehlende Erklärung liefern.

Arbeit mit Netzhaut-Organoiden

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler machten sich dabei eine Technik zunutze, die sie zuvor entwickelt haben: Sie arbeiten mit sogenannten Netzhaut-Organoiden - einem organartigen, dreidimensionalen Modell der menschlichen Netzhaut, das aus menschlichen Stammzellen im Labor gezüchtet wird. Diese Organoide weisen einige spezifische Merkmale der menschlichen Makula auf. Das Team fand heraus, dass zwei Substanzen die bei verschiedenen neurodegenerativen Erkrankungen zuvor beschrieben wurden -– die Proteine HBEGF und TNF – ausreichen, um eine Degeneration im Netzhaut-Organoid auszulösen.

Filmen in Echtzeit

Während dieses Prozesses filmten die Forscherinnen und Forscher die Organoide in Echtzeit; das sogenannte Live-Imaging gilt als Goldstandard, um Veränderungen von Zellen zu verfolgen. „Wir konnten die Degeneration von Photorezeptoren durch die Zell-Extrusion im Labor aufzeichnen“, sagt Mike Karl. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fanden heraus, dass diese Extrusion durch Aktivierung des Proteins PIEZO1 ausgelöst wird, einem Sensor für biomechanische Kräfte.

Beweis beim Menschen steht noch aus

Dass die Biomechanik möglicherweise eine größere Rolle bei der Degeneration der Netzhaut spielen könnte, ist eine neue Erkenntnis. „Die Netzhaut ist nicht als biomechanisch aktives Gewebe wie etwa ein Muskel bekannt. Man wusste, dass Erkrankungen im Nervensystem mit Formveränderungen von Zellen einhergehen, aber inwieweit sie von biomechanischen Kräften reguliert werden, wurde bislang noch nicht untersucht“, so Karl. Dank der Organoide konnte er mit seinem Team die Prozesse gewissermaßen im Zeitraffer beobachten: Während es bei AMD-Patientinnen und -Patienten mehrere Jahre oder sogar Jahrzehnte dauert, bis Photorezeptoren verschwinden, konnte dieser Prozess im Labor jetzt in nur 40 Tagen nachvollzogen werden. Im nächsten Schritt wollen die Forscherinnen und Forscher jetzt herausfinden, ob dieser Mechanismus in der Netzhaut beim Patienten genauso auftritt wie in den Organoiden. Erste Daten und viele inhaltliche Übereinstimmungen legen nahe, dass es sich um den gleichen Mechanismus handeln könnte, aber der Beweis steht noch aus.

Hoffnung auf präventive Behandlung

In ihrer Studie stellten die Dresdner Forscherinnen und Forscher auch fest, dass sich die Extrusion unter Laborbedingungen im Modell verhindern lässt, wenn experimentelle Substanzen zum Einsatz kommen: Mit einem speziellen Schlangengift haben sie den Mechanosensor PIEZO1 auf den Zellen blockiert. In der Folge wurden nicht nur die Photorezeptoren nicht ausgestoßen, sondern auch weitere krankhafte Veränderungen in der Netzhaut verhindert. „Das macht Hoffnung auf die Entwicklung künftiger präventiver und therapeutischer Behandlungen für komplexe neurodegenerative Erkrankungen wie der AMD“, bilanziert Mike Karl.

*Mikroskopische Aufnahmen von im Labor gezüchteten Mini-Netzhäuten, so genannten menschlichen Netzhaut-Organoiden. Das linke Bild zeigt einen Schnitt eines gesunden (Kontroll-)Organoids. Das rechte Bild zeigt einen Organoidschnitt mit pathologischen Veränderungen. Auf der rechten Seite ist ein sichtbarer Verlust an grüner Farbe zu erkennen, der dem massiven Verlust von Photorezeptorneuronen entspricht, die grün markiert sind. Die rote Farbe zeigt die pathologischen Müller-Glia-Zellen, die in der gesunden Kontrollgruppe nicht vorhanden sind. © Völkner et al., Nat. Comm., 2022

Literatur:
Völkner M, Wagner F, Steinheuer LM, et al.: HBEGF-TNF induce a complex outer retinal pathology with photoreceptor cell extrusion in human organoids. Nature Communications (Oktober 2022), DOI: doi.org/10.1038/s41467-022-33848-y.

Eisenhoffer G, Loftus P, Yoshigi M, et al.: Crowding induces live cell extrusion to maintain homeostatic cell numbers in epithelia. Nature 484, 546–549 (2012), DOI: doi.org/10.1038/nature10999.

Quelle: idw/TU Dresden

Artikel teilen

Online-Angebot der MT im Dialog

Um das Online-Angebot der MT im Dialog uneingeschränkt nutzen zu können, müssen Sie sich einmalig mit Ihrer DVTA-Mitglieds- oder Abonnentennummer registrieren.

Stellen- und Rubrikenmarkt

Möchten Sie eine Anzeige in der MT im Dialog schalten?

Stellenmarkt
Industrieanzeige