Ausstellung: Medicus – Die Macht des Wissens

Historisches Museum der Pfalz, Speyer
Christof Goddemeier
Medicus – Die Macht des Wissens
Blick in die Ausstellung auf den original-getreuen Nachbau des Baderwagens aus dem Film „Der Medicus“. Für beide: © Carolin Breckle/Historisches Museum der Pfalz Speyer
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Das Leben eines Menschen in der Hand zu halten wie einen Kieselstein. Zu fühlen, wie es entglitt, es aber dank eigener Kenntnis zurückzubringen! Nicht einmal ein König hatte solche Macht.

Konnte er mehr lernen? Wie viel konnte man überhaupt lernen? Wie musste es sein, (. . .) wenn man alles lernte, was es zu lernen gab? Zum ersten Mal verspürte er den Wunsch, Medicus zu werden“, schrieb Noah Gordon 1986 in seinem Roman „Der Medicus“, der sich millionenfach verkaufte. Im 11. Jahrhundert bricht hier der junge, wissensdurstige Bader Rob Cole von London zu einer Reise ins persische Isfahan auf, wo er sich vom Universalgelehrten Avicenna (Ibn Sina) unterrichten lässt. 2013 wurde der Stoff unter der Regie von Philipp Stölzl verfilmt. Dabei nahm der Wissenschaftsjournalist Gordon, selbst medizinischer Laie, sich die Freiheit des Autors: „Wenn keine oder nur bruchstückhafte Aufzeichnungen vorhanden waren, habe ich meiner Fantasie freien Lauf gelassen.“ Die Ausstellung in Speyer geht von Gordons Roman aus und zeigt fast 5.000 Jahre medizinische Entwicklung. Anders als Gordon hält sie sich streng an die Fakten und liefert gleichwohl eine packende Erzählung. Denn Wolfgang Leitmeyer, wissenschaftlicher Kurator der Ausstellung, folgt der „emotionalen Spur“ des Romans und lässt akademisches Wissen und den menschlichen Existenzkampf lebendig werden. Etliche Museen, darunter auch die Uffizien, der Louvre und die Staatlichen Museen zu Berlin, stellen Leihgaben zur Verfügung.

Ausstellungsbesuch

„Was ist Wissen?“ und „Was bedeutet‚Gesundheit‘?“, fragt Leitmeyer im hervorragenden Katalog und verweist auf Gaston Bachelard und Michel Foucault. Bachelard zufolge ist die Geschichte der Wissenschaften eine Geschichte der korrigierten Fehler, und Foucault betont die spezifischen Bedingungen, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort darüber entscheiden, ob eine Aussage als wahr oder falsch eingestuft wird. Damit sind Wissen und Wissenschaft nicht als Fortschrittsgeschichte schreibbar, sondern verändern sich, wenn sich grundlegende Normen ändern. Demnach entwickelt sich auch der Gesundheitsbegriff in „enger Abhängigkeit zu Zeit, Ort, Religion, Ideologie oder anderen Konzepten der Wirklichkeit“.

Gegliedert in sechs Hauptabteilungen – Mesopotamien, Ägypten, antikes Griechenland, antikes Rom, Mittelalter und frühe Neuzeit – zeigt sich: Über weite Strecken der Menschheitsgeschichte war Medizin eine Glaubensfrage. Dabei sind Magie und Wissenschaft keine Gegensätze. So ist die praktisch-medizinische Seite der Heilkunst etwa in Mesopotamien und Ägypten eng mit magischen Ritualen verbunden. Wie konnte es auch anders sein? Einblicke in den menschlichen Körper mittels Röntgen und Ultraschall sowie Hineinhören mit dem Stethoskop waren nicht möglich. Antiker Vorstellung zufolge war der Mensch während seines ganzen Lebens kosmischen und göttlichen Kräften ausgesetzt.

Parallel zu diesen Vorstellungen findet sich indes ein reicher Fundus an Kenntnissen und Praktiken, die zum Teil auf Beobachtung und Erfahrung beruhen. Hauptquelle etwa der mesopotamischen Heilkunde sind Keilschrifttexte, die seit dem 19. Jahrhundert in antiken Städten des heutigen Irak ausgegraben werden. Diese Texte enthalten medizinische Rezepte, Beschwörungen und Verzeichnisse von Heilpflanzen, zum Beispiel das Pharmakologisch-therapeutische Handbuch aus Assur (1400–1000 v. Chr.). Folgerichtig trat der mesopotamische Medicus in Gestalt zweier Berufsbilder auf: Beschwörer und Arzt beriefen sich jeweils auf unterschiedliche Autoritäten. Für chirurgische Eingriffe, etwa das Öffnen von Geschwüren und Abszessen, durften Ärzte Honorar verlangen, den Gesetzen Hammurabis (2. Jahrtausend v. Chr.) zufolge drohten jedoch bei ausbleibendem Erfolg Geld- oder Körperstrafen.

Im vierten Gesang seiner „Odyssee“ (7. Jhdt. v. Chr.) schrieb Homer über Ägypten: „Dort ist jeder ein Arzt, kundiger als die anderen Menschen. Denn wahrlich, sie stammen dort ab vom Geschlecht des Paieon“ (Heilgott, der dem ägyptischen Gott Thot entspricht). Der griechische Geschichtsschreiber Herodot bereiste Ägypten und fand die ägyptischen Ärzte häufig am persischen Königshof, wo man ihre Expertise schätzte. Im fünften vorchristlichen Jahrhundert beschrieb er ärztliche Spezialisierung: „Die Heilkunst ist so verteilt, dass jeder Arzt nicht mehr als eine Krankheit zu heilen versteht. Daher ist alles voll von Ärzten. Da gibt es besondere Ärzte für die Augen, für den Kopf, für die Zähne, für die Krankheiten des Unterleibes, für die unsichtbaren.“

Im Unterschied zu Mesopotamien mumifizierte man in Ägypten Verstorbene. Dabei überwachten Ärzte den Vorgang, Balsamierer führten die Tätigkeiten aus. So erhielten sie, etwa beim Leibschnitt zur Entnahme der Organe, Einblicke in das Körperinnere. Heilkundige existierten als Ärzte, die mit geeigneten Pharmaka heilten, welche sie selbst zubereiteten. Zudem führten sie Operationen durch und versorgten Wunden. Ähnlich kompetent waren die „Sachmet-Priester“. Sie stimmten die löwengestaltige Göttin Sachmet friedlich, die nach landläufiger Ansicht vor allem Seuchen verursachte. „Vorlesepriester“ beschworen und führten Rituale durch. Alle drei Professionen waren universal gebildet und in der Lage, den bei einer Krankheit gestörten Lauf der Dinge zu korrigieren.

Asklepios war ursprünglich kein Heilgott, sondern ein thessalischer Fürst. Homers „Ilias“ erwähnt zwei seiner Söhne als Heerführer und Ärzte. Erst ein komplizierter Mythos machte aus dem Fürsten einen Heilgott, die Fähigkeit zu heilen übernahm er von seinem Vater Apollon. Vermutlich von Trikka im Norden Griechenlands verbreitete sich der Asklepioskult über Griechenland und Kleinasien. Heute sind etwa 70 Geschichten von Wunderheilungen erhalten, angesichts der Dauer des Kults von mehr als 500 Jahren eine kleine Zahl. Parallel etablierte sich in Griechenland eine Medizin, die auf den Namen des Arztes Hippokrates von Kos zurückging. Doch das „Corpus Hippocraticum“ wurde nicht von einem einzelnen, sondern von einer Gruppe von Ärzten verfasst, die überwiegend anonym blieben. In der Schrift „Über die Natur des Menschen“ findet sich zum ersten Mal die „Vier-Säfte-Lehre“ oder Humoralpathologie. Hier korrespondieren mit den Elementen des Makrokosmos – Luft, Wasser, Feuer und Erde – auf der Ebene des Menschen (Mikrokosmos) vier körpereigene Säfte: Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle.

Anknüpfend an Hippokrates verfasste Galen von Pergamon im zweiten Jahrhundert das umfangreichste medizinische Werk der Antike. Zwar gab es im antiken Griechenland den Begriff „Anatomie“, doch das Aufschneiden von Leichen wurde nicht praktiziert. Im Unterschied zur Wunderheilung im Traum durch Asklepios zeigte sich die hippokratische Medizin „rational“ (Karl Heinz Leven) und nahm natürliche Kausalitäten an. Demnach ist „Beten (. . .) gewiss eine gute Sache“, schrieb ein hippokratischer Autor, aber: „Wenn man die Götter anruft, muss man auch selbst etwas zur Sache tun.“

Voodoo gab es nicht nur in Afrika und in der Karibik, sondern auch im antiken Griechenland. Mittels „Analogiezauber“ oder „sympathetischer Magie“ konnten sogenannte Rachepuppen einen Zauber oder Fluch auf Personen übertragen, dasselbe Prinzip wurde auch zur Heilung eingesetzt. Die Ausstellung zeigt eine Rachepuppe (kolossos) aus der Region südliche Ägäis. Sie ist knapp zehn Zentimeter groß und stammt aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert.

Waren die Griechen medizinische Wissenschaftler, so war der praktische medizinische Alltag Sache der Römer. Den griechischen „Archiatros“, lateinisch „Archiater“, findet man im deutschen „Arzt“ wieder. Spätestens im vierten vorchristlichen Jahrhundert lassen sich Ärztinnen nachweisen, auch wenn die weibliche Form des griechischen Wortes „iatros“ (Arzt) noch nicht üblich war. In Rom konnten Frauen ab dem ersten Jahrhundert v. Chr. Ärztinnen werden. Aus Grabbeigaben und Skelettuntersuchungen beziffert man ihren Anteil an der römischen Ärzteschaft mit fünf Prozent. Ähnlich wie heute fanden Spezialisten ihre Patienten eher in den Städten, auf dem Land dominierten praktische Ärzte. Die Ausstellung präsentiert beeindruckende Instrumente der Gynäkologie und Zahnmedizin, des Blasensteinschnitts und der Augenheilkunde, zum Beispiel drei- und vierblättrige Vaginalspecula aus Pompeji und Kleinasien. Der römische Satiriker Martial beschrieb um 100 n. Chr. Auswüchse der Spezialisierung, etwa kosmetische Chirurgie und die Korrektur von Wimpernhaaren.

Mit dem aufkommenden Christentum verschwand der Asklepioskult. Das antike medizinische Wissen gelangte über Konstantinopel nach Kleinasien und in den Vorderen Orient. Im Zuge der islamischen Eroberungen fand es über Nordafrika zurück nach Europa. Im Mittelalter standen hier die Klöster für Frömmigkeit und Gelehrsamkeit. Man kopierte die Handschriften und gab das antike Wissen weiter. Mit dem Glauben an Christus als den besten Heilkundigen für Körper und Seele widmeten Nonnen und Mönche sich im klösterlichen Alltag auch der Krankenbehandlung. Dabei schrieb man den Heiligen je eigene Wunderheilungen zu, etwa den 14 Nothelfern. Ein Altarretabel aus Ditzingen (16. Jhdt.) zeigt die beiden Ärzte und Heiligen Cosmas und Damian bei der Transplantation eines Beines. Drei Engel assistieren bei der Operation. Bischof Isidor von Sevilla (7. Jhdt.) schrieb eine zwanzigbändige Enzyklopädie, und Odo von Meung (11. Jhdt.) verfasste sein Lehrgedicht über Arzneipflanzen, den „Macer floridus“. Zitate daraus sind bis ins späte 20. Jahrhundert nachweisbar. Das Ende der Klostermedizin leiteten schließlich die um 1200 entstehenden medizinischen Universitäten ein, allen voran die berühmte Schule von Salerno in Kampanien.

Mit dem Humanismus begann man, sich für Muskeln, Nerven und innere Organe des Menschen zu interessieren. Galen, dessen Lehre bis dahin allgemein akzeptiert war, hatte seine anatomischen Untersuchungen lediglich an Affen und Schweinen durchgeführt. Nun bekam sein System erste Risse: Künstler wie Leonardo da Vinci und Michelangelo sezierten bereits im späten 15. Jahrhundert. Der Flame Andreas Vesal und der Basler Felix Platter gruben nachts auf dem Friedhof heimlich Leichen aus und schnitten sie auf. Einzeltäter waren sie nicht – in Padua drohte der Senat 1550 schwere Strafen für den Leichendiebstahl an. Doch die Verbreitung des neuen Wissens ließ sich nicht aufhalten. Vesals Buch „De humani corporis fabrica“ (1543) mit seinen detailgenauen Zeichnungen des menschlichen Körpers veränderte das Menschenbild und bewirkte eine zunehmende Abkehr von der antiken Medizin. Die Ausstellung endet schließlich mit der „Gläsernen Frau“, einem vollständigen, lebensgroßen Modell, erstmals 1927 von Franz Tschackert hergestellt.

Die Ausstellung „Medicus – Die Macht des Wissens“ (5. September 2020 bis 13. Juni 2021) folgt Gordons Roman. Folgerichtig und aus Platzgründen kommen China und Indien nicht vor. Doch vedische und traditionelle chinesische Medizin hätten den Blick sicher noch einmal erweitert und das Gezeigte ergänzt und bereichert. Online-Führungen unter: museum.speyer.de/aktuell/medicus/medicus-digital.

Literatur

  1. Neumaier R: Patient tot, Geschichte lebendig. In: Süddeutsche Zeitung, 24. Januar 2020.
  2. Schubert A, Leitmeyer W, Zanke S (eds.): Medicus – Die Macht des Wissens. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2019.
  3. Seidler E: Geschichte der Pflege des kranken Menschen. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer, 5. Auflage 1980.

Entnommen aus MTA Dialog 7/2020

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