Dr. Rainer Jund: „Von der Impffront“

Interview
Stefanie Hanke
Dr. med. Rainer Jund
Dr. Rainer Jund ist niedergelassener HNO-Arzt und Autor. privat
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Die Impfkampagne gegen das Coronavirus hat den Arbeitsalltag vieler Ärztinnen und Ärzte in den vergangenen Monaten massiv geprägt. Der HNO-Arzt Dr. Rainer Jund hat seine Erlebnisse in dem Erfahrungsbericht „Von der Impffront: Aus dem Alltag eines Arztes“ aufgeschrieben.

Am Anfang der Impfkampagne stehen zwei kleine Fläschchen: Darin der Impfstoff von Biontech, den die Praxis von Jund bekommen hat. Diese Fläschchen werden den Arbeitsalltag der Praxis – und vieler anderer Praxen in ganz Deutschland – für Monate auf den Kopf stellen. Jund selbst betrachtet den Impfstoff im Kühlschrank mit einer Mischung aus Hoffnung und Staunen: „Das ist sie also, die Reaktion, das konzentrierte Wissen der Menschheit als Antwort auf die größte Krise der Jetztzeit.“ Das gute Gefühl, selbst gegen die Pandemie aktiv werden zu können, mischt sich mit einer diffusen Unruhe: Denn Jund ist klar, dass es nicht einfach werden wird.

 

In seinem Buch schildert der Arzt und Autor in kurzen Episoden von einem Tag auf den anderen, wie er und sein Team mit den Veränderungen umgehen, die die Impfkampagne mit sich bringt. Wie schon in seinem ersten Buch „Tage in Weiß“ greift Jund die Geschehnisse in einzelnen Episoden auf. Allerdings geht es diesmal nur um einen Zeitraum von wenigen Monaten im Frühjahr 2021 – nicht um die Erfahrungen eines Arztes über Jahrzehnte hinweg. Dadurch wirkt „Von der Impffront“ sehr dicht und konzentriert: Das schmale Büchlein zeigt auf knapp 140 Seiten, welche Emotionen und Verhaltensweisen das Coronavirus und die Impfkampagne in unserer Gesellschaft zum Vorschein bringen. Immer wieder geht es um Angst: Angst vor Ansteckung, Angst vor Nebenwirkungen, aber auch um die Angst des Praxisteams, von den Ereignissen überrollt zu werden und dem Druck nicht mehr gewachsen zu sein.

Da sind beispielsweise die „Impfdrängler“, die alles versuchen, um möglichst schnell an die Spritze zu kommen. Sie bedrängen das Praxisteam am Empfang, bombardieren es mit E-Mails und Anrufen. Denn: Jeder hat einen guten Grund, jeder braucht die Impfung dringend. Für den Arzt und seine Mitarbeiterinnen eine ganz neue Situation: „Der Staat hat uns, Ärzte und Praxismitarbeiter, zum Verwalter eines knappen Gutes gemacht. Der Auftrag lautet, darüber zu entscheiden, wer früher einen Schutz gegen eine ernsthafte Erkrankung erhält. Das ist nicht die genuine Aufgabe einer Praxis (…) Die Auswahl der Impflinge hat den blechernen Geschmack von mentaler Korruption. Und auch, ja natürlich, einer Art ‚Triage light‘.“ Vorübergehend führt diese Aufgabe das Praxisteam an seine Grenzen – bis einige organisatorische Veränderungen Erleichterung bringen.

Das Buch „Von der Impffront“ wirft ein Schlaglicht auf die Situation niedergelassener Ärztinnen und Ärzte in der Impfkampagne – und es gibt denen ein Gesicht, die sonst hinter Statistiken und Zahlen verborgen bleiben. Bis Anfang August 2021 wurden mehr als 40 Millionen Dosen Impfstoff an Arztpraxen geliefert. Was dort mit ihnen geschehen ist, erfährt man bei Rainer Jund.

Interview mit Dr. Rainer Jund, HNO-Arzt und Autor des Buchs „Von der Impffront“

Herr Dr. Jund, der Titel „Von der Impffront“ erinnert an einen Bericht aus einem Kriegsgebiet. Nehmen Sie die Impfkampagne tatsächlich als eine Art „Fronteinsatz“ wahr?
Wir bringen das Wort „Front“ ja alle mit militärischen Szenerien in Verbindung. Aber eigentlich ist es eine Begegnungslinie. Unser Gegner, mit dem wir uns in erster Linie auseinandersetzen, ist natürlich das Virus. In meinen Augen ist das aber nicht der Hauptgegner. Eigentlich geht es um die Menschen, die gesellschaftlichen Konsequenzen aus dieser Pandemie und vor allem darum, wie wir mit Ängsten und Unsicherheiten umgehen. Ich habe beim Schreiben schon auch an Berichte aus vergangenen Kriegen gedacht – beispielsweise an Tagebücher, die Soldaten im Ersten und Zweiten Weltkrieg geschrieben haben. Mir ging es darum, diese Situation zu dokumentieren und greifbar zu machen – auch ein bisschen als Teil der Geschichtsschreibung und als Quelle für Historiker kommender Generationen.

Warum haben Sie ein Buch über die Impfkampagne geschrieben?
Ich arbeite aktuell eigentlich an anderen literarischen Projekten, die mir grundsätzlich wichtiger sind. „Von der Impffront“ war jetzt ein sehr schnelles Projekt, weil ich quasi als Zeitzeuge vom Beginn der Impfkampagne aus meiner Perspektive berichten wollte. Deshalb war ich sehr motiviert, dazu ganz schnell etwas zu schreiben. Die literarische Wertigkeit stand dabei etwas weniger im Mittelpunkt. Aber ein paar poetische Ausflüge und Gedanken konnte ich mir trotzdem nicht verkneifen. Es ist ja kein reines Sachbuch über das Impfen geworden, sondern ein sehr subjektiver, persönlicher Einblick.

Wie haben Sie denn die Pandemie-Situation in ihrer Praxis vor Beginn der Impfkampagne erlebt?
Im ganz strengen Lockdown ist die Patientenzahl tatsächlich spürbar eingebrochen. Als HNO-Praxis waren wir eigentlich genau die Stelle, zu der die Patienten kommen, die alle Corona haben könnten. Wir waren selber vorsichtig, haben aber keine Restriktionen erteilt. Auch Patienten mit Husten oder Fieber konnten immer zu uns kommen. Ich verstehe das als die wesentliche Aufgabe meines Berufs, diese Menschen so gut wie möglich zu betreuen. Allerdings sind die Menschen nicht mehr für Kleinigkeiten zu uns gekommen, sondern nur dann, wenn es ihnen wirklich nicht gut ging. Das fühlte sich ehrlich gesagt auch mal ganz gut an – sich da auch für eine Weile wirklich nur auf das Wesentliche konzentrieren zu können. Ich denke, die Patienten haben das Risiko, sich bei uns oder auf dem Weg anzustecken, mit ihrem jeweiligen Leidensdruck abgewogen. Wir konnten genau beobachten, dass viele Termine abgesagt wurden, wenn die Medien beispielsweise von neuen Virusvarianten berichtet haben. Bedauerlicherweise waren darunter auch Patientinnen und Patienten, die zur onkologischen Nachsorge zu uns kommen. Leider wurden durch diesen Effekt beispielsweise auch Tumordiagnosen erst später gestellt – und das erschwert natürlich die Therapie.

Was ging beim Beginn der Impfkampagne in Ihnen vor – als die ersten Impfdosen in Ihre Praxis geliefert wurden?
Die beherrschenden Gefühle waren Stolz, Selbstbewusstsein und Hoffnung. Stolz, dass es in dieser Zeit eine effektive Impfung gibt, die so schnell entwickelt wurde. Selbstbewusstsein, weil wir uns als Facharztpraxis die Mühe machen, uns an der Impfkampagne zu beteiligen. Und Hoffnung, dass wir mithelfen können, die Pandemie zu beenden. Wir wussten schon, dass mehr Arbeit auf uns zukommt. Aber trotzdem waren wir an diesem Tag glücklich.

Konnten Sie sich denn zu dem Zeitpunkt schon vorstellen, wie viel Mehrarbeit dadurch auf Sie zukommt?
Nein, das war uns noch nicht klar – ich hatte nur eine Ahnung davon, weil schon da sehr viele Anrufe und E-Mails von Menschen kamen, die sich bei uns impfen lassen wollten. Die Sorge unseres Teams war vor allem, ob wir diese große Nachfrage befriedigen können. Schnell beherrschte dieses Thema unsere Arbeit in der Praxis – ich war eigentlich gar kein HNO-Arzt mehr, sondern mindestens 80 Prozent aller Anfragen drehten sich um die Impfung. Auch für das ganze Team war das eine riesige Belastung. Da gab es Momente, wo auch meine Mitarbeiterinnen an ihre Grenzen gekommen sind – es sind auch Tränen geflossen, weil den ganzen Tag Anfragen kamen. Einige Menschen waren auch sehr fordernd und in ihrer Tonalität übergriffig – vor allem die jungen Mitarbeiterinnen waren dem dann nicht mehr gewachsen. Der Druck war auf einmal ganz anders als sonst – aber auch die Verantwortung für die Impfreihenfolge. Dafür sind sie ja gar nicht ausgebildet.

Wie haben Sie darauf reagiert?
Dr. Rainer Jund: Wir haben für die Impfinteressenten gesonderte Kommunikationskanäle geschaffen: Wir hatten eine eigene Telefonnummer, eine eigene E-Mail-Adresse und spezielle Zeiten nur für die Impfungen, damit der sonstige Praxisbetrieb weiterlaufen konnte. Die Kommunikation der Impfterminierung hat eine sehr erfahrene MFA übernommen. Das hat ganz gut funktioniert. Für mich war es sehr hilfreich, mich mit anderen Ärztinnen und Ärzten, aber auch mit meinen Mitarbeiterinnen darüber auszutauschen. Viele Praxen sind ja schon sehr früh wieder aus der Impfkampagne ausgestiegen, weil der Druck zu hoch war. Aber ich finde, das kann man eigentlich nicht machen. Die Impfung ist ein Teil unseres genuinen Auftrags als Mediziner – und anders als ein anonymes Impfzentrum schafft ein niedergelassener Arzt, den man vielleicht schon kennt, natürlich auch Vertrauen – gerade, wenn man selbst unsicher ist.

Die fordernde Haltung vieler Impfinteressenten haben Sie schon angesprochen. Wie haben Sie die Menschen in dieser Phase erlebt?
Die überwiegende Anzahl der Patienten war absolut positiv, hilfsbereit und entgegenkommend. Viele waren einfach dankbar, jetzt die Impfung zu bekommen. Aber natürlich ist es interessanter, über die extremeren Verhaltensweisen zu berichten – deshalb kommen die auch im Buch vor. In einer bedrohlichen Situation schälen sich die Extreme heraus – da bin ich mir ganz sicher. Das Ego kommt verstärkt zum Tragen. Die Impfdrängler haben für uns am Anfang den meisten Druck aufgebaut. Viele sind mit einer verstärkten Aggressivität aufgetreten. Manche Menschen haben überhaupt keine Hemmungen, fünfmal in der Woche anzurufen, wann sie jetzt endlich dran sind – und dabei auch laut zu werden. Bei vielen war das gepaart mit einem starken Anspruchsdenken – vor allem aus der älteren Generation. Da kamen viele mit dem Anspruch „Es steht mir zu und ich bin jetzt an der Reihe“. Dass es trotzdem nicht genug Impfstoff gibt, ist diesen Menschen schwer zu vermitteln. Das hat uns viel Kraft gekostet und ich glaube, dass viele Praxen deshalb kapituliert haben.

Welche Rolle spielen die verschiedenen Impfstoffhersteller dabei?
Am Anfang wussten wir ja oft nicht, welchen Impfstoff wir bekommen und wie viel davon. Gleichzeitig wurde auf breitester Basis ganz ungeschickt kommuniziert – vor allem natürlich über Astra Zeneca. Viele haben ihre Termine wieder abgesagt, weil sie unbedingt Biontech wollten und wir nur Astra hatten. Vor allem die Senioren wollten unbedingt Biontech – auch, als Astra nur noch für Ältere empfohlen war. Diese Leute fanden wir dann ein bisschen unsympathisch – denn gleichzeitig kamen die Jüngeren, für die Astra gar nicht zugelassen war. Die wollten einfach überhaupt irgendeine Impfung und hätten auch Astra genommen. Wir hatten dadurch eine Tendenz, die Jüngeren zu bevorzugen. Wir wollten denen auch ein Signal senden, dass wir auch für sie da sind.

Wie bewerten Sie die Rolle der Medien in diesem Zusammenhang?
Die Rolle der Medien wird oft noch zu stark unterbewertet. Informationen sind doch das einzige, was uns von der puren Hoffnung trennt – und diese Informationen bekommen wir eben nur über die Medien. Wenn man verlässliche Informationen hat und sie versteht, gibt einem das eine Perspektive – beispielsweise, wann man wieder rausgehen kann oder wann man die Impfung bekommt. Das ist für das Zusammenleben in einer komplexen Gesellschaft elementar. Deshalb haben die Medien eine Verantwortung. Aber diese Verantwortung wird von vielen Medien überhaupt nicht wahrgenommen. Die tun alles, um über Angst und Panik ihre Quoten und Auflagen zu steigern. Ich frage mich oft, ob das noch fair und richtig ist im Interesse von uns allen. Denn durch Schlagzeilen wie „Rentner (81) nach Biontech-Impfung gestorben“ entsteht natürlich eine große Verunsicherung – das haben wir sofort in der Praxis gemerkt. Dazu kommen alle möglichen Informationen aus dem Internet – teils klare Falschmeldungen. Viele Menschen können aber nicht unterscheiden, ob etwas aus einer seriösen Quelle stammt oder nicht. Das hat dazu geführt, dass sich in einer Krisensituation viele Menschen falsch entschieden haben, weil sie Ängste entwickelt haben. Gleichzeitig finden keine echten Diskussionen mehr statt, weil sich die Fronten verhärtet haben und jeder nur noch seine eigene Position zu verteidigen scheint – und zwar mit einer gewissen Aggression. Das sehen wir ja oft in Talkshows, aber inzwischen auch im privaten Bereich. Das halte ich für fatal.

Glauben Sie denn, dass man Impfgegner im Gespräch noch umstimmen kann?
Bei manifesten Impfgegnern ist das für uns in der Praxis nicht möglich. Da haben wir nicht die Zeit für das ausführliche Gespräch, das da nötig wäre – da braucht es fast eine Therapie, um jemanden umzustimmen. Als echten Impfgegner würde ich jemanden bezeichnen, der die Impfung dogmatisch, mit fast religiöser Überzeugung ablehnt. Da geht es oft mehr um Glauben als um rationale Argumente. Bei Impfskeptikern ist die Lage anders. Diese Menschen sind unsicher und haben oft viele Fragen: Wie sind die Langzeitwirkungen der Impfung? Welche Nebenwirkungen gibt es? Ist das alles überhaupt ausreichend erforscht? Schade ich mir damit? Das sind berechtigte Fragen und da sehe ich eine Chance, diese Menschen fachlich und mit guten Argumenten zu überzeugen.

Inzwischen, im August 2021, hat die Impfkampagne spürbar an Schwung verloren. Wie ist die Situation in Ihrer Praxis jetzt?
Es ist viel ruhiger geworden – und das ist bedauerlich. Jetzt haben wir genug Impfstoff, um weite Teile der Bevölkerung durchzuimpfen. Aber leider kommen die Menschen nicht mehr. Teilweise liegt das vielleicht auch an einem Überangebot. Für uns ist das traurig – wir sind immer noch motiviert, und wir wollen so viele Menschen wie möglich impfen. Und es ist auch schade, weil die Geschwindigkeit in der Pandemie ein ganz wichtiger Faktor ist. Das Virus wird natürlich mutieren und es wird weitere Wellen geben. Und wenn wir darauf nicht schnell reagieren, werden wir eine Herdenimmunität nie erreichen – und dann sind wir der Pandemie und ihren Folgeerscheinungen hilflos ausgeliefert.

Glauben Sie aktuell noch daran, dass wir eine Herdenimmunität erreichen können?
Ich glaube, dass es wie bei der Influenza in Zukunft weitere Varianten geben wird und jährlich Menschen an Corona erkranken werden – manche davon leider auch schwer. Aber wie bei der Influenza werden wir damit umgehen können, wenn wir am Anfang möglichst alle impfen, uns aber später auf die vulnerablen Gruppen konzentrieren: beispielsweise ältere Menschen und alle, die im medizinischen Bereich arbeiten. Das kann aber nur dann passieren, wenn möglichst viele in der Bevölkerung schon Kontakt zu dem Virus hatten – sei es durch die Impfung oder durch eine Infektion. Und wenn man diese beiden Möglichkeiten – Impfung oder Infektion – miteinander addiert, glaube ich nach wie vor, dass eine Herdenimmunität möglich ist.

Buchtipp:

Rainer Jund: „Von der Impffront: Aus dem Alltag eines Arztes“
‎FinanzBuch Verlag, München 2021
144  Seiten,
Taschenbuch
10,00 Euro
ISBN: 3959725221

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