Gibt es viel mehr Protein-produzierende Genabschnitte?

Viele Segmente noch unerforscht
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Viele unerforschte Genabschnitte
Viele unerforschte Genabschnitte © Giovanni Cancemi, stock.adobe.com
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Das Humangenomprojekte hatte damals nur etwa 20.000 Gene gefunden, die Proteine produzieren. Doch dies könnte viel zu wenig sein, wie sich jetzt zeigt. Dies könnte zu neuen Forschungsansätzen im Bereich der menschlichen Gesundheit und Krankheit führen.

Große Hoffnungen verbanden sich mit dem Humangenomprojekt. Die Sequenzierung des Genoms sollte helfen, Krankheiten wie Krebs endgültig zu besiegen und dadurch die Lebensverhältnisse der Menschen entscheidend zu verbessern. Als Forscherinnen und Forscher im Jahr 2001 mit dem Humangenomprojekt das Erbgut des Menschen vollständig entschlüsselt hatten, gab es jedoch eine große Überraschung: Sie hatten nur rund 20.000 Gene gefunden, die Proteine produzieren. Sollte der Mensch also nur etwa doppelt so viele Gene besitzen wie eine Fliege? Wissenschaftler/-innen hatten mit erheblich mehr gerechnet. Nun haben Forscher aus 20 Institutionen weltweit mehr als 7.200 weitgehend unerforschte Genabschnitte zusammengefasst, die möglicherweise für neue Proteine kodieren. Sie haben dabei eine neue Technologie eingesetzt, die die proteinproduzierende Maschinerie in den Zellen im Detail untersucht, um mögliche Proteine beim Menschen zu finden. Die Studie legte nahe, dass das Humangenomprojekt mit all seinen Bemühungen, die menschlichen Gene zu beschreiben, erst der Anfang gewesen sein könnte. Das Forschungskonsortium möchte die wissenschaftliche Gemeinschaft dazu ermutigen, ihre Daten in die großen Humangenom-Datenbanken zu integrieren.

Tausende „Open Reading Frames“ entdeckt

In den vergangenen Jahren wurden Tausende, häufig sehr kleine „Open Reading Frames“ im menschlichen Genom entdeckt. Das sind Abschnitte im Erbgut, die Bauanleitungen für Proteine enthalten könnten. Mehrere Autorinnen und Autoren der aktuellen Studie haben in der Vergangenheit bereits ORFs gefunden. So wurden z.B. 2019 neue Mini-Proteine im menschlichen Herzen beschrieben. Keine dieser bislang nahezu unerforschten Segmente seien jedoch daraufhin in Referenzdatenbanken aufgetaucht. Viele andere neu entdeckte Sequenzen, die Forscher weltweit beschrieben, seien ebenfalls für den größten Teil der wissenschaftlichen Gemeinschaft unsichtbar geblieben – obwohl belegt sei, dass sie RNA-Moleküle produzieren, die daraufhin an die Proteinfabriken der Zelle, die Ribosome, binden, betonen die Forscher.

„Junge“ Sequenzen fielen durchs Raster

Traditionell haben Wissenschaftler/-innen proteinkodierende Abschnitte in Genen identifiziert, indem sie DNA-Sequenzen von mehreren Spezies miteinander verglichen. Denn die wichtigsten kodierenden DNA-Sequenzen blieben im Laufe der Evolution von Tieren erhalten. Mit dieser Methode fielen jedoch kodierende Sequenzen durchs Raster, die relativ jung sind, die also erst während der Entwicklung von Primaten entstanden sind. Sie fehlen in den Datenbanken. Nun galt es also, die wenig beachteten ORFs in die größten Referenzdatenbanken zu integrieren, denn bislang musste man in der Literatur gezielt nach ihnen suchen, wenn man sie erforschen wollte. In einem ersten Schritt sammelte das internationale Forschungsteam Informationen zu Sequenzen, die mit dem „Ribosom-Profiling“ neu entdeckt wurden – diese Methode ermittelt, mit welchem Teil der Boten-RNA (mRNA) das Ribosom interagiert. Danach fügten sie die Daten zu einem standardisierten Satz zusammen. Keine leichte Aufgabe. Denn Daten aus unterschiedlichen Laboren, die auf verschiedenste Weisen gewonnen wurden, können nicht einfach so miteinander kombiniert werden.

Humangenom-Datenbanken überarbeiten

Sobald dies geschafft war, beschäftigte sich das internationale Konsortium mit zentralen Fragen, die unsere Vorstellung vom menschlichen Genom prägen: Was ist ein Gen? Was ist ein Protein? Brauchen wir flexible Vorstellungen davon, ob Ribosomen immer ein Protein produzieren oder vielleicht auch ein ganz anderes zelluläres Signal? Die Gruppe will nun die Humangenom-Datenbanken überarbeiten, die Forscher weltweit nutzen. Ensembl-GENCODE richtet den ORF-Katalog als Bestandteil ihrer Referenz-Annotation-Datenbank ein, viele weitere wie UniProt, HGNC, PeptideAtlas and HUPO wollen folgen.

Tragen ORFs zu Volkskrankheiten bei?

„Unsere Forschung bringt das Verständnis des genetischen Aufbaus und der vollständigen Anzahl der Proteine im Menschen einen großen Schritt voran“, sagt Dr. Sebastiaan van Heesch vom Prinses Máxima Centrum in den Niederlanden. „Es ist ungeheuer spannend, die Forschungsgemeinschaft mit unserem Katalog zu unterstützen. Wir können zwar jetzt noch nicht sagen, dass es sich bei allen neuen Sequenzen wirklich menschliche Proteine repräsentieren. Fest steht jedoch, dass ein großer Teil des menschlichen Genoms noch unerforscht ist und die Welt dies zur Kenntnis nehmen sollte.“

„Viel zu lange wurde die wissenschaftliche Gemeinschaft über diese ORFs im Unklaren gelassen“, sagt Dr. Jonathan Mudge vom Bioinformatik-Institut am European Molecular Biology Laboratory (EMBL-EBI) in Großbritannien. „Wir sind sehr stolz darauf, dass Forschende auf der ganzen Welt sie nun untersuchen können. Ab jetzt sind sie für alle Wissenschaftler/-innen aus der Genomik und Medizin verfügbar – davon versprechen wir uns weitreichende Impulse.“

„Die meisten der 7200 ORFs aus unserem Katalog gibt es nur bei Primaten und stellen möglicherweise evolutionäre Neuerungen dar, die einzigartig sind für unsere Spezies“, erläutert Dr. Jorge Ruiz-Orera vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) in Deutschland, Evolutionsbiologe und Wissenschaftler in Hübners Arbeitsgruppe. „Vielleicht verraten sie mehr darüber, was den Menschen wirklich ausmacht.“

Was kommt als nächstes? Dr. John Prensner, Broad Institute des MIT und Harvard in den USA, meint, dass „diese ORFs mit ziemlicher Sicherheit zu vielen menschlichen Merkmalen und Krankheiten beitragen, auch zu häufigen Krankheiten wie Krebs.“ Die Herausforderung bestehe nun darin, herauszufinden, welche ORFs bei welchen Krankheiten welche Rolle spielen.


Literatur:
Jorge Ruiz-Orera, et al (2022): A community-driven roadmap to advance research on translated open reading frames. Nature Biotechnology, DOI: 10.1038/s41587-022-01369-0.

Sebastiaan van Heesch, Franziska Witte, Valentin Schneider-Lunitz, et al.: The Translational Landscape of the Human Heart. Cell, 27 June 2019, DOI: www.cell.com/cell/fulltext/S0092-8674(19)30508-2.

Prensner, J.R., Enache, O.M., Luria, V. et al.: Noncanonical open reading frames encode functional proteins essential for cancer cell survival. Nat Biotechnol 39, 697–704 (2021), DOI: doi.org/10.1038/s41587-020-00806-2.

Chen J, Brunner AD, Cogan JZ, Nuñez JK, Fields AP, Adamson B, Itzhak DN, Li JY, Mann M, Leonetti MD, Weissman JS: Pervasive functional translation of noncanonical human open reading frames. Science. 2020 Mar 6; 367 (6482): 1140-1146, DOI: 10.1126/science.aay0262.

Martinez TF, Chu Q, Donaldson C, Tan D, Shokhirev MN, Saghatelian A: Accurate annotation of human protein-coding small open reading frames. Nat Chem Biol. 2020 Apr; 16 (4): 458-468, DOI: 10.1038/s41589-019-0425-0. Epub 2019 Dec 9.

Quelle: idw/MDC

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