Heinrich Schnitger und die Entwicklung der Kolbenhubpipette

Heinz Fiedler
Titelbild zum Porträt von Heinrich Schnitger, dem Entwickler der Kolbenhubpipette, in der historischen Reihe
Abb. 1: Heinrich Schnitger © Eppendorf
Newsletter­anmeldung

Bleiben Sie auf dem Laufenden. Der MT-Dialog-Newsletter informiert Sie jede Woche kostenfrei über die wichtigsten Branchen-News, aktuelle Themen und die neusten Stellenangebote.


Die Kolbenhubpipette beziehungsweise Mikropipette ist heute überall zu sehen, sogar in jeder Fernsehsendung über Biotechnologie, Epidemiologie, Gentherapie und Krebsbehandlung. Der Entwickler Dr. Heinrich Schnitger konnte aber den Siegeszug seiner Entdeckung nicht mehr erleben, er verunglückte wenige Jahre später (1964) beim Baden im Eibsee in Oberbayern. Die weltweite Verbreitung seiner Erfindung übernahmen die Firmen Eppendorf in Hamburg, Gilson Inc. in Madison (Wiconsin, USA) und Biohit Oy in Finnland.

Heinrich Schnitger

Heinrich Schnitger wurde 1925 in Lemgo geboren [1, 2]. Die zahlreichen Erfindungen seines Vaters regten ihn bereits als Kind zur Mitarbeit und zu eigenen Spielereien an. Im 2. Weltkrieg infizierte er sich mit Tuberkulose. Nach Entlassung aus der Armee wegen Dienstuntauglichkeit studierte er Medizin an der Philipps-Universität in Marburg in der Absicht „sich selbst zu behandeln und nicht auf inkompetente Ärzte angewiesen zu sein“, wie er es zu Beginn seiner Erkrankung erlebt hatte. 1956 promovierte er mit der Entwicklung und Beschreibung eines Apparates zur automatischen Bestimmung von Blutgerinnungszeiten: Zwei Elektroden bewegten sich im Blutplasma, bis die Gerinnung eine Brücke zwischen den Drähten herstellte und ein Signal auslöste. Das Patent wurde von Becton Dickinson & Co aufgekauft und vertrieben.

1957 trat Schnitger als Postdoc in die Gruppe von Theodor Bücher (1947–1997) am Physiologisch-Chemischen Institut der Universität Marburg ein. 1957 war ein Jahr des technischen Fortschritts: Start von Sputnik, erste elektrische Schreibmaschine, Drehkolbenmotor und Lasertechnik. 1957 kehrte der Institutsangehörige Hanns Schmitz von einem Studienaufenthalt aus den USA zurück und führte die Nukleotid-Chromatografie in Marburg ein. Heinrich Schnitger und Roland Scholz wurden von Prof. Bücher beauftragt, die zahlreichen anfallenden Proben (meist waren es ~1 µL) unter Verwendung von Carlsberg-Pipetten zu untersuchen. Diese Pipetten wurden 1936 von Kaj Linderstrøm-Lang (1896–1959) und Milton Levy im Carlsberg-Labor gefertigt (Carlsberg war eine dänische Brauerei mit einem international bekannten Forschungslabor): Ein Glasröhrchen wurde über einer Bunsenflamme zu einer Kapillare ausgezogen, an deren Endteil nochmals eine Verengung erzeugt wurde. Jede Pipette musste gravimetrisch oder mit Farblösungen kalibriert werden. Die Flüssigkeit musste mit dem Mund (jetzt verboten) oder einer Pipettierhilfe (Gummiball) angesaugt werden. Die Reinigung war kompliziert und die Bruchgefahr groß.

Kolbenhubpipette, Mikroliterpipette oder Mikropipette

Schnitger war mit dieser aufwendigen Vorgehensweise nicht einverstanden. Er verschwand einige Tage aus dem Labor und kehrte mit einem Gerät zurück, das schon der späteren Mikropipette ähnelte. In eine Tuberkulinspritze hatte er eine Feder eingebaut, die das aufgesaugte Volumen begrenzte und die Nadel ersetzte er durch eine Polyethylenspitze. Mit einer zweiten Feder konnte der Kolben das restliche Volumen ausstoßen. Die Ummantelung der Spritze verhinderte den Temperatureinfluss auf die Genauigkeit des Verfahrens [1, 3].

Theodor Bücher, der bei Otto Warburg (1883–1970, Nobelpreisträger 1931) auch technisch ausgebildet worden war, erkannte sofort das enorme Potenzial der Erfindung und beauftragte Schnitger in Zusammenarbeit mit der mechanischen Werkstatt mit der Verbesserung der provisorischen Pipette. Sechs Monate später meldete Schnitger das Patent „Vorrichtung zum schnellen und exakten Pipettieren kleiner Flüssigkeitsmengen“ (1090449) an, das am 24. April 1961 erteilt wurde. Schnitger benutzte nun Teflon für die Pipettenspitzen und optimierte deren Herstellung durch Sinterung von Teflonpulver. Bald wurde die „Marburg-Pipette“ außerhalb des Labors bekannt. Heinrich Netheler und der Physiker Hans Hinz erwarben für die Firma Eppendorf in Hamburg alle Patentrechte. Wilhelm Bergmann ersetzte Teflon durch das neue Polypropylen beziehungsweise Polyethylen. Die Pipettenspitzen erhöhten als Wegwerfartikel den Arbeitsschutz und die Hygiene. Durch unterschiedliche Farbgebung wurden die Spitzen zum Einsatz für verschiedene Pipettengrößen markiert. Eppendorf führte 1978 die Multipette sowie Mehrkanalpipette mit einstellbaren Abstand der Kanäle ein. Der Finne Osmo Suovaniemi erhielt 1973 das Patent für eine Mehrkanalpipette, die als Finnpipette über Biohit Oy (Helsinki) zusammen mit Multiscan und einem Vertikalmess-System vertrieben wurde.

In den USA wurde 1974 durch Warren Gilson, der 1945 die Firma Gilson Inc. gegründet hatte, und dem Biochemiker Henry Lardy die Pipette perfektioniert, indem auch Pipetten mit variabel einstellbaren Volumina produziert wurden, was Schnitger bereits im Patent erwähnt hatte.

Schnitger machte weitere Erfindungen, wie einen Fraktionssammler für acht parallele Chromatografiesäulen und spezielle UV-Mikrospektrophotometer mit Quarzoptik für Proben von 10 µL. Wegen der komplizierten Konstruktionen blieben allerdings Markterfolge aus und sein früher Tod verhinderte weitere Verbesserungen. Schnitger war ein Einzelgänger und er meinte, dass eine einzelne Person kreativer sein kann als ein Team: Das Individuum findet (bei Begabung) unkonventionelle Lösungen, die im Team verbessert werden können.

Die Kolbenhubpipette (engl. air displacement pipette) oder Mikropipette ist zu einem der wichtigsten Geräte in modernen biochemischen und genetischen Laboratorien geworden. Durch die Einmalpipettenspitzen wird verhindert, dass die Flüssigkeit mit der Pipette selbst Kontakt hat und der kalibrierte Messmechanismus kontaminiert, verändert oder beschädigt wird. Für den Transfer von Flüssigkeiten wird zur Erhöhung der Genauigkeit die kleinste Pipettengröße verwendet, die das ausgewählte Volumen übertragen kann. Die ermüdende manuelle Bedienung kann durch Motor mit Batterie ersetzt werden. Für ein mehrfaches Übertragen eines bestimmten Volumens aus einem größeren Volumen benötigt man statt der Pipettenspitzen ein direkt verdrängendes Reservoir ähnlich einer Spritze, das die Aufnahme eines größeren Volumens und schnelles Arbeiten mit Mikrotiterplatten oder parallelen Reaktionsansätzen erlaubt. Man spricht von Handdispenser, Multipetten, Tacker oder Repeater.

 

Geschichte der Volumetrie

Die Volumetrie hat bereits vorher eine über Jahrhunderte dauernde Entwicklung genommen. Beteiligt waren zunächst Alchemisten und besonders Apotheker mit einfachen Geräten aus Ton und später aus Glas wie Mensuren und Messkolben (Einguss-Messvorrichtungen). Ein bekannter Techniker dieser Zeit war Johann Kunkel (1630/38– 1703), der auf der Pfaueninsel in Brandenburg experimentierte und über die „vollkommene Glasmacherkunst“ schrieb.

Büretten

Francois Descroizilles (1751–1825, eigene Apotheken in Versailles und Rouen) erstellte 1791 die erste Bürette und begründete die Titration (Entfärbung einer Indigolösung durch Chlor) [4]. Joseph-Louis Gay-Lussac (1778–1850) modifizierte 1824 diese Bürette und sprach erstmals von „titrieren“. Weitere Forscher auf diesem Gebiet waren Etienne Ossian Henry (1798–1873) und Karl Friedrich Mohr (1806–1879, Quetschhahnbürette), der 1877 das „Lehrbuch der chemisch-analytischen Titriermethode“ schrieb. Mit gasdichten Büretten, als Azotometer (Nitrometer) bezeichnet, wurden Gasvolumina (N2, CO2, SO2, HO2) gemessen, die bei Oxidationsprozessen entstehen: Donald van Slyke (1883–1911, primäre Amine und salpetrige Säure), Wilhelm Knop (1817–1891, Agrochemie, Düngemittel), Ureometer für Harnstoffgehalt im Urin. Gasbüretten werden heute durch Kolbenprober ersetzt.

Pipetten

Pipetten (abgeleitet von pipe; Pfeife) sind klassisch Glasröhrchen, die an einem Ende verjüngt und am anderen Ende (zum Aufsaugen) offen sind [5]. Vollpipetten haben nur ein oder zwei Marken für ein definiertes Volumen. Messpipetten haben durchgehende Volumenmarkierungen, sind vielseitiger aber ungenauer als Vollpipetten. Beide Typen sind auf Flüssigkeiten von 20 °C und auf Auslauf („Ex“) kalibriert, das heißt sie werden nicht leergeblasen und sind nicht zum Absaugen eines bestimmten Volumens geeignet. Das Aufsaugen mit dem Mund wurde durch die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung verboten. In einem Bericht von 1915 berichteten 57 Laboratorien von 47 Infektionen, davon 40 Prozent durch das Mundpipettieren. Deshalb waren Pipettierhilfen notwendig: Der Bakteriologe Friedrich Pels Leusden (1899–1976) führte den Peleusball mit drei Ventilen ein [6]. Andere Maßnahmen waren Howorka-Ball, Aspirette, besonders konstruierte Injektionsspritzen oder akkubetriebene Pipettierhilfen. Zahlreiche weitere Pipettentypen wurden zum Dosieren und serologischen Arbeiten (mit geringeren Genauigkeitsanforderungen) entwickelt und sind nach dem Erstnutzer als Eponyme benannt: Pasteur-Pipetten (Louis Pasteur, 1822–1895) aus Glas oder zum Einmalgebrauch aus Polyethylen mit Gummiball zum Dosieren aliquoter Flüssigkeitsmengen. In der Hämatologie wurden Sahli-Pipetten (Hermann Sahli, 1856–1933) mit einer Markierung viele Jahre genutzt. Skalierte Wegwerfpipetten (5 oder 10 mL) werden für häufige Dosierungen verwendet. Graduierte serologische Pipetten wurden von Donald Dexter van Slyke (1883–1971) und von Karl Friedrich Mohr erstmalig eingesetzt.

Mikroliterpipetten

Konstriktionspipetten (5–500 µL) mit einer oder zwei Konstriktionen, die bei vorsichtigem Aufziehen das Volumen begrenzen, sind auf Auslauf geeicht oder können mit dem Lösungsmittel nachgespült werden (Natelson, Lang-Levy). Bei Überlaufpipetten stellt sich das Volumen automatisch ein, zu viel aufgesogene Flüssigkeit fließt ab. Von Linderstrøm-Lang wurden sie in Carlsberg entwickelt und von Manuel Sanz 1959 mit einem Vorratsbehälter kombiniert [7]. Durch verstellbare Ventile ist auch Automatisierung möglich (Linderstrøm-Lang und H. Holter, 1931). Entscheidende Verbesserungen brachten die vielseitig einsetzbaren Kolbenhubpipetten, von Heinrich Schnitger 1957 erstmals konstruiert. Glasmikropipetten werden bei Arbeiten mit dem Mikroskop für Mikroinjektionen und Patch-Clamping meist zusammen mit einem Mikromanipulator eingesetzt.


Literatur

1. Klingenberg M: When a common problem meets an ingenious mind. EMBO Reports 2005; 6: 797–800.
2. Heinrich Schnitger. de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Schnitger.
3. Pfeiffer B, Koolman J: Die Erfindung der Mikroliterpipette. Biospektrum 2005; 11 (4): 467–70.
4. Duval C: Francois Descroizilles, the inventor of volumetric analysis. J Chem Educ 1951; 28: 508–19.
5. Pipette. de.wikipedia.org/wiki/Pipette.
6. Leusden FP: Rücklaufsicheres gefahrloses Pipettieren. Münch Med Wschr 1931; 78: 2156–7.
7. Westover L, Wertman M, Ware AG: Use of the Sanz pipet in the clinical laboratory. Clin Chem 1962; 8: 333–4.

 

Entnommen aus MTA Dialog 6/2022

Artikel teilen

Online-Angebot der MT im Dialog

Um das Online-Angebot der MT im Dialog uneingeschränkt nutzen zu können, müssen Sie sich einmalig mit Ihrer DVTA-Mitglieds- oder Abonnentennummer registrieren.

Stellen- und Rubrikenmarkt

Möchten Sie eine Anzeige in der MT im Dialog schalten?

Stellenmarkt
Industrieanzeige