Medizinfortschritt mit Nebenwirkung (Teil 4)

Eine Bestandsaufnahme der Hightechmedizin in den letzten 50 Jahren in Deutschland
Hardy-Thorsten Panknin
Titelbild zum Beitrag über Medizinfortschritt
© kentoh/stock.adobe.com
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Der gesetzliche Auftrag der Krankenversicherung – Sozialgesetz (SGB § 1), im Sinne der gesellschaftlichen Solidargemeinschaft, – lautet: die Gesundheit zu erhalten, wiederherzustellen oder den Gesundheitszustand zu verbessern. Die gesetzliche Krankenversicherung wird nach dem kollektiven Äquivalenzprinzip finanziert; die Beiträge richten sich nach der finanziellen Leistungsfähigkeit der Mitglieder, die Gesundheitsleistungen sind für alle gleich.

Im bestehenden Gesundheitssystem hat jeder Patient ein Recht auf adäquate ärztliche und pflegerische Behandlung. Die hiesige Bevölkerung erwartet von der Sozialpolitik, dass ein Versorgungssystem zur Verfügung gestellt wird, welches die Risikofaktoren passiv behandelt, um Endpunkterkrankungen zu vermeiden, und welches im Falle einer Erkrankung eine optimale Behandlung mit unbegrenztem Rückgriff auf die dafür erforderlichen Mittel zur Verfügung stellt. § 2 des Fünften Buches des Sozialgesetzes (SGB V) verpflichtet die Krankenkassen, den Versicherten Behandlungsmethoden, Arznei- und Heilmittel der besonderen Therapierichtungen zur Verfügung zu stellen, die dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen müssen. Dabei ist stets der direkte patientenrelevante Nutzen vor allem durch:

  • die Steigerung der Lebenserwartung,

  • die Reduktion von Beschwerden und Komplikationen,

  • die Steigerung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität,

  • die Verminderung des diagnostischen und therapeutischen Aufwandes und

  • die Zunahme der Patientenzufriedenheit zu berücksichtigen.

Laut der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen hat jeder Mensch das Recht auf einen Lebensstandard, der Gesundheit und Wohlergehen gewährleistet. Zu einem solchen Lebensstandard gehören ausreichende und gute Nahrung, Kleidung, eine Wohnung, ärztliche Versorgung und die notwendigen sozialen Leistungen. Die Grundidee des Menschenrechts auf Gesundheit ist, dass der Staat – als vorrangiger Träger menschenrechtlicher Pflichten –, die Gesundheit der Menschen nicht beeinträchtigt, diese vor Eingriffen schützt und Maßnahmen ergreift, damit die Menschen gesunde Lebens- und Arbeitsbedingungen vorfinden. Vor allem aber sollen die Bewohner Zugang zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung haben. Damit ergeben sich aus dem Menschenrecht auf Gesundheit staatliche Unterlassungs- und Handlungspflichten, die sich gesellschaftspolitisch einfordern und – je nach regionalem oder nationalem Recht – mitunter auch einklagen lassen [2, 42, 61].

Gesundheitspolitik habe nicht in erster Linie den Krankenkassen Kosten zu sparen, sondern uns alle möglichst lange am Leben und gesund zu erhalten [46].

Demografischer Wandel schlägt zu

Wir haben erstmals das „Recht auf Gesundheit“ proklamiert. Zu den aktuellen Krisen sorgt ein neues Faktum für weitere apokalyptische Stimmung: der demografische Wandel hierzulande. Die Babyboomer aus den Jahren 1958–1971 gehen in Kürze in Rente. Es fehlen hierdurch dem Arbeitsmarkt jedes Jahr Hunderttausende Arbeitskräfte. Für Deutschland bedeutet das, dass wir in den nächsten zwei Jahrzehnten jährlich eine halbe Million mehr Ruheständler als Menschen haben werden, die die Volljährigkeit erreichen. Deutschland ist heute nach Japan das älteste Land der Welt. Im Jahre 2030 wird der Anteil der Generation 65 plus bei 26 Prozent liegen (Statistisches Bundesamt, Wiesbaden). Um die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (15–64 Jahre) konstant zu halten, bräuchte Deutschland 24 Millionen Einwanderer bis 2050 – also knapp eine halbe Million zugezogene Beschäftigte pro Jahr. Für den medizinischen Sektor bedeutet der demografische Wandel: Es wird mehr Menschen mit Pflegestufe geben als Personen unter 30 Jahre. Die Konsequenzen sind verheerend – ja sogar apokalyptisch, nicht nur die finanzielle Situation der jungen Menschen und die Wirtschaft betreffend. Für den medizinischen Fortschritt stellt sich die Frage, ob er für die Rentner von Morgen auch weiterhin uneingeschränkt zur Verfügung stehen wird. Die typischen Alters- und Wohlstandskrankheiten beziehungsweise Zivilisationskrankheiten (engl. Lifestyle diseases): Diabetes mellitus, Gefäßkrankheiten, Koronarstenosen und arterielle Hypertonie lassen sich medikamentös und interventionell, wie bereits ausführlich beschrieben, gut beherrschen. Bei Gelenkverschleiß gilt es schon als selbstverständlich, dass Menschen in den Industrienationen bis in die höchsten Altersgruppen mit künstlichen Hüft- oder Kniegelenken versorgt werden. Die Zunahme operativer Eingriffe, die auch bei hochbetagten Menschen noch vorgenommen werden, hat auch das Altersspektrum intensivmedizinisch behandelter Patienten stark beeinflusst. Damit stellt sich zukünftig für die gesamte Medizin die Frage, bei welchen Erkrankungen der ältere Patient beziehungsweise Pensionist überhaupt von den Therapien profitiert? Diese Leistungsdynamik wird entscheidend beeinflusst vom medizinischen Fortschritt und von der gestiegenen Lebenserwartung der Bevölkerung.

Medizinischer Fortschritt und gestiegene Lebenserwartung sind nicht nur eigenständige dynamische Größen. Zwischen ihnen besteht auch ein enger Zusammenhang. Die Lebenserwartung steigt zweifellos auch infolge des medizinischen Fortschrittes, wobei in den hohen Altersdekaden häufig mehrere Organsysteme funktionell und auf Dauer eingeschränkt sind. Den größten Kostenanteil – etwa 75 Prozent – verursachen chronische Krankheiten; vor allem des fortgeschrittenen Lebensalters. Diese kostspieligen Leiden treten, wie gesundheitsökonomische Statistiken zeigen, selbst bei optimaler Vorsorge auf, da es sich in aller Regel um physiologische Alterserscheinungen handelt. Sie sind gleichsam Zeichen einer befristeten und zum Tode bestimmten Existenz. Ihre ökonomisch störende Zunahme ist gleichzeitig ein Preis der steigenden Lebenserwartung, worauf der Medizinhistoriker Prof. Dr. med. Klaus Bergdolt explizit hinweist. In der Altersheilkunde steht nicht das Defizit im Vordergrund, also das, was nicht mehr funktioniert. Es geht vielmehr darum, die verbliebenen Ressourcen zu fördern, damit die Patienten im Alltag zurechtkommen [11, 13, 14, 18, 19, 22, 24, 28, 29, 56].

Was ist noch leistbar?

Die drängendste Frage der medizinischen Versorgung für die Zukunft lautet: Können wir uns das uneingeschränkt Machbare überhaupt leisten? Wir werden um weitere Beitragserhöhungen zukünftig nicht herumkommen, wenn wir das bestehende Solidaritätsprinzip in der jetzigen praktizierten Form erhalten wollen. Nach dem Internisten und Nephrologen Prof. Dr. med. Christoph Fuchs, ehemaliger Leiter der Gesundheitsabteilung im Ministerium für Umwelt und Gesundheit des Landes Rheinland Pfalz und Hauptgeschäftsführer der Bundesärztekammer, stehen wir vor der Situation, dass infolge Ressourcenknappheit allgemein anerkannte ärztliche oder medizinische Standards in Teilbereichen nicht mehr durchgehend eingehalten werden können: Personal muss reduziert werden, trotz kürzerer Verweildauer, höherer Fallzahlen und schwererer Krankheitsverläufe. Patienten müssen dann sogar vorzeitig entlassen werden, weil noch gefährdetere Patienten aufgenommen werden müssen [13, 14].

Alle diese Faktoren haben in den letzten Jahren massiv dazu geführt, dass gerade in allen Gesundheitsbereichen Fachpersonal der unterschiedlichen Gesundheitsfachberufe fehlen und neue Tätige nur mühsam bei der Finanzierung zu gewinnen sind; auch das neue Gesetz zur Stärkung des Pflegepersonals (PpSG) – unter anderem mit Anpassungen im Krankenhausfinanzierungsgesetz – und Krankenhausentgeltgesetz haben an der eklatanten Situation nicht viel geändert. Das deutsche Gesundheitswesen besteht gegenwärtig unverändert im Konflikt zwischen Patienteninteressen und Budgets (Abbildung 8).

 

Budgetierung im Gesundheitswesen

Eine ehrliche Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Folgen einer Budgetierung im Gesundheitswesen findet außerhalb der Ärzteschaft bisher kaum statt. Die Bevölkerung ist fest in dem Glauben verankert, dass im Krankheitsfall alles medizinisch Notwendige für die primäre Heilung unternommen wird, was dem aktuellen klinischen und zukünftig erreichbaren Wissensstand aus Biotechnologie, Gentechnologie, Gerontotechnik, Pharmaindustrie, Medizintechnik, ambulanter Krankenpflege mit Rund-um-die-Uhr-Betreuung ermöglicht – nach dem Motto: „Egal was es kostet, man zahlt ja monatlich genug Krankenkassenbeiträge“. Hier muss ein Umdenken erfolgen, ob wirklich alles Machbare auch sinnvoll und von den Beitragszahlern auch letztendlich finanziert werden kann. Wir werden in Zukunft mit Verteilungsgerechtigkeitsproblemen konfrontiert werden; denn das Gesundheitssystem ist im Prinzip finanziell unersättlich. Besonders Krankenhäuser werden seit Jahrzehnten als sogenanntes „Sorgenkind“ der bundesdeutschen Gesundheitspolitik angesehen, dabei wird im larmoyanten Ton von Unwirtschaftlichkeiten und Überkapazitäten als Kostentreiber gesprochen. Im Rahmen einer Untersuchung, die die eingeführte Gesundheitsreform mit Blick auf die Kosten untersuchte, wurde als Endergebnis festgestellt, dass zwischen 1975–1990 keine „Kostenexplosion“ im Krankenhausbereich stattgefunden hat: Der Prozentsatz schwankte in den untersuchten Jahren nur leicht zwischen 12,7 Prozent und maximal 13,3 Prozent und fiel infolge des Gesundheitsreformgesetzes auf 12,3 Prozent im Jahr 1989. Die Ausgaben für die stationäre Behandlung am Bruttosozialprodukt blieben seit Mitte der 1970er-Jahre konstant, der volkswirtschaftliche Aufwand für die stationäre Behandlung blieb folglich im Rahmen der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung. Der emeritierte Prof. Dr. rer. pol. Michael Simon, Hochschule Hannover (vormals: Evangelische Fachhochschule Hannover), verwies im Rahmen seiner Dissertation – als Buch komplettiert mit dem Titel „Krankenhauspolitik in der Bundesrepublik Deutschland – Historische Entwicklung und Probleme der politischen Steuerung stationärer Krankenversorgung“ – darauf hin, dass gerade Journalisten nach Zusammenhängen der Kostensteigerung der Zugang zu den tatsächlichen Zusammenhängen in der Regel mangels Fachkenntnis und zur Verfügung stehender Zeit für die Recherche verschlossen seien. Sie griffen daher nicht zuletzt auch infolge ihrer Arbeitsbelastung auf die regierungsamtlichen Darstellungen oder Pressemitteilungen zurück, in denen die genannten Problemdefinitionen zu finden sind – ein falsches Kostenbild im Gesundheitswesen werde somit in die Öffentlichkeit transportiert [60]. Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland sind seit Jahren konstant: Sie liegen zwischen 6,4 Prozent und 6,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die gesetzliche Krankenversicherung ist grundsätzlich in der Lage, die Herausforderungen, die sich aus der demografischen Entwicklung ergeben, zu meistern, wenn es gelingt, die bestehenden „hausgemachten“ Ineffizienzen (also die medizinisch unbegründeten Ausgabensteigerungen) zu beseitigen [61].

Sind die Probleme beherrschbar?

Erwin Rüddel, MdB und Mitglied der Arbeitsgruppe Gesundheit in der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, schlussfolgerte in seinem Vortrag „Gesundheit im Alter: Gesundheitspolitische Bewertung“: „Ja, es ist wahr: Wir stehen angesichts der absehbaren demografischen Entwicklung in der Gesundheitspolitik vor großen Aufgaben. Aber: Die Probleme sind beherrschbar und zwar, ohne dass die arbeitende Bevölkerung beziehungsweise die Beitragszahler unmäßig belastet werden müssten und auch, ohne dass man Zuflucht zu altersspezifischen Diskriminierungen nehmen müsste“ [62]. Prof. Dr. Meinhard Miegel (*23. April 1939 in Wien), ein deutscher Sozialwissenschaftler und Publizist und Vorstand des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft, konkretisierte in seinem Vortrag „Was ist uns die Gesundheit wert? Gerechte Verteilung knapper Ressourcen“: „Wollen wir in möglichst großer Gesundheit alt werden, ohne den Gesundheitssektor immer weiter aufzupumpen, müssen wir uns zu einem anderen Lebensstil durchringen und auch eine andere Krankheits-, Alters- und Sterbekultur entwickeln. Das ist wahrscheinlich die mit Abstand kostendämpfendste Reformmaßnahme. Aber sie ist mit Sicherheit auch die schwierigste. Die Politik jedenfalls ist mit ihr überfordert. Das müssen wir Bürger schon selber tun“ [63]. Unter der Voraussetzung, dass der mögliche Zugewinn an Lebenserwartung begrenzt ist, lässt sich folgern, dass durch Stärkung der Prävention die Ausgabenentwicklung positiv beeinflusst und damit ein wichtiger Beitrag zur Erhaltung der Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems geleistet werden kann [81]. Ein Gesundheitssystem kann nur dann dauerhaft funktionstüchtig bleiben, wenn der Einzelne nicht allein den Schutz der Gemeinschaft einfordert, sondern ebenso seine Eigenverantwortung wahrnimmt. Darauf weisen der ehemalige Chirurg und Hochschullehrer aus Aachen, Prof. Dr. med. Volker Schumpelick (12. Oktober 1944–17. Januar 2022), und Bernhard Vogel (*19. Dezember 1932), Ministerpräsident a. D. sowie ehemaliger Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., explizit hin. Beide Persönlichkeiten hatten in Zusammenarbeit mit der Konrad-Adenauer-Stiftung, die bereits erwähnten Cadenabbia-Gespräche „Medizin – Ethik – Recht“ ins Leben gerufen; ein Diskussionsforum, das jenseits der aktuellen, meist ökonomisch geprägten Debatte um die Gesundheitsreform grundsätzlichen Fragestellungen im Bereich der Medizin nachging [56, 63].

 

Die Ärzte können heute die Augen nicht mehr davor verschließen, dass die Menge der zur Gesundheitsversorgung verfügbaren Mittel begrenzt ist. Alle nationalen Gesundheitssysteme sind mehr oder weniger Budgets unterworfen [13, 14, 46, 56, 59].

Krankheit nicht immer schicksalhaft – Eigenverantwortung übernehmen

Dabei sollte nicht außer Acht gelassen werden: Krankheit ist nicht immer schicksalhaft, sondern häufig durch die Art der Lebensführung beeinflusst. Rauchen, Alkohol, gefährliche Sportarten, Bewegungsmangel, Leichtsinn im Straßenverkehr, infektionsgefährdende Verhaltensweisen, zum Beispiel risikoreiche sexuelle Praktiken in Verbindung mit Promiskuität, Reisen in Länder mit hoher Infektionsgefährdung (Zoonosen), übermäßiger Verzehr von Genussmitteln, besonders synthetische Drogen und Übergewicht sind hier als typische Beispiele zu konstatieren. Gesundheit wird vermehrt zu einem Anliegen der Erziehungswissenschaft werden müssen, wie es Prof. Dr. med. Hans Schaefer schon im Jahre 1979 und jüngst auch weitere Vertreter aus Medizin und Politik fordern [39, 56, 62, 63]. Wer aber seine Gesundheit optimal gestalten möchte, wer Krankheiten bewältigen will, muss als Patientin oder Patient, die wesentlichen Leistungen selbst erbringen. Dies gilt besonders für Erkrankungen, die von Risikofaktoren abhängig sind wie:

  • Zuckerkrankheit als Folge von Übergewicht,

  • Schlaganfall oder Herzinfarkt als Folge von Bewegungsmangel, Übergewicht, hohem Blutdruck und Rauchen,

  • Asthma und obstruktive Lungenkrankheit als Folge von Rauchen,

  • Gelenkabnutzung als Folge von Bewegungsmangel und Übergewicht, um nur einige Beispiele zu nennen.

Ab einem BMI (Body-Mass-Index) von 30 ist statistisch mit einer erhöhten Mortalität und Morbidität zu rechnen. Wer mit Übergewicht, Nikotinabusus, Alkoholmissbrauch, Bewegungsmangel, hohem Blutdruck, Fettstoffwechselstörungen, erhöhtem Blutzucker und anderen Risikofaktoren lebt, erfährt mit größerer Wahrscheinlichkeit in der zweiten Lebenshälfte einen Herzinfarkt, einen Schlaganfall, eine chronische obstruktive Lungenerkrankung, eine bösartige Neubildung, einen Nierenschaden, Morbus Alzheimer oder andere neurologische Erkrankungen oder muss sich einer Operation zum Ersatz der abgenutzten Gelenke unterziehen [56]. Die technische Revolution in der Medizin hat in der Bevölkerung einen grenzenlosen Optimismus gezüchtet, man sieht die Heilung im Krankenhaus als selbstverständlich, die Verkrüppelung oder den Tod als technisches oder ärztliches Versagen an [3, 7, 16, 19, 23–25, 59, 68].

Der emeritierte Internist, Onkologe und ehemalige Hochschullehrer der Universität zu Köln, Prof. Dr. med. Volker Diehl (*28. Februar 1938), moniert zu Recht, dass viele Menschen unter Gesundheit die maximale physische und geistige Leistungsfähigkeit auf dem Niveau eines Dreißigjährigen verstehen, also die volle Genuss- und Reiseerlebnisfähigkeit sowie sexuelle Erlebnisfähigkeit bei uneingeschränkter Inanspruchnahme von gastronomischen Angeboten und möglichst ohne Beschränkungen von Genussmitteln wie Alkohol, Tabak oder synthetischen Drogen [64]. Auch der ehemalige Chefarzt der Klinik für Allgemeinchirurgie und Viszeralchirurgie an der München Klinik Harlaching – ehemals Städtisches Krankenhaus München-Harlaching – und Herausgeber der sehr lesenswerten Monografie „Der mündige Patient und andere Beiträge zur Medizin“, Prof. Dr. med. Johannes Horn (*23. März 1943), betont: „Solange, wie der Mensch gesund und leistungsfähig genug ist, am öffentlichen Konsens lieb gewordener Daseinsgewohnheiten teilzuhaben, bleiben wesentliche Fragen an das eigene Leben ausgeblendet“ [68]. Franca Ongaro (15. September 1928–13. Januar 2005), eine italienische Aktivistin und Politikerin, schrieb in ihrem Buch mit dem provokanten Titel „Gesundheit, Krankheit – Das Elend der Medizin“ dazu: „Für uns, in unserer Kultur ist die Krankheit der Tod, weil als Leben nur die absolute Gesundheit gilt; für das Selbst und seine Geschichte ist sie verloren, weil als einziges Identitätsmuster das Bild vom gesunden, leistungsfähigen und produktiven Menschen angeboten wird. Schließlich bedeutet Krankheit für uns Angst vor dem Unbekannten, denn der Einzige, der die Geheimnisse von Leben und Tod noch zu kennen scheint, ist der Arzt“ [76]. Unsere Gesundheitsverfassung hängt zu etwa 50 Prozent mit unserer selbstbestimmten Lebenssituation zusammen. Die andere Hälfte krankmachender Ursachen verteilt sich zu 20 Prozent auf genetische Disposition; worauf im ersten Teil explizit hingewiesen worden ist. 20 Prozent der Ursachen von Krankheit wird auf unsere Umwelt, als Folge der in den letzten Jahrzehnten rasant zunehmenden Zerstörung unserer Natur, angesehen. Gesundheit ist der Prozess einer dauernden Anpassung an die Myriaden von Mikroben, an die Reize, Nöte und Probleme, denen die Menschen täglich ausgesetzt sind [24, 46, 80].

Fortsetzung und Literaturverzeichnis folgen.

 

Entnommen aus MT im Dialog 11/2023

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