Rätsel in der Evolution von bakteriellen Enzymen gelöst

Enzym aus der Vorzeit rekonstruiert
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Stammbaum
So sieht ein Stammbaum aus, dessen Ursprung (Mitte) zwei Milliarden Jahre zurückreicht. Die Spitzen der Äste stehen jeweils für das Enzym eines modernen Organismus. Foto: Diana Smikalla
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Wissenschaftler/-innen konnten durch die Rekonstruktion eines Kandidaten für eine spezielle RNA-Polymerase, wie sie vor etwa 2 Milliarden Jahren existierte, eine bislang rätselhafte Eigenschaft der entsprechenden modernen Enzyme erklären.

Bei den untersuchten Enzymen handelt es sich um tRNA-Nukleotidyltransferasen. Enzyme, die an kleine RNAs in der Zelle (sogenannte transfer-RNAs) drei Nukleotid-Bausteine in der Sequenzabfolge C-C-A anheften, damit sie anschließend Aminosäuren für die Proteinsynthese liefern können. Durch Stammbaum-Rekonstruktionen hat ein Forscherteam an der Uni Leipzig um Prof. Mario Mörl (Biochemie) und Prof. Sonja Prohaska (Bioinformatik) einen Kandidaten für ein derartiges anzestrales, also auf den Vorfahren zurückgehendes Enzym rekonstruiert, wie es vor etwa zwei Milliarden Jahren in Bakterien existierte. Das Forscherteam hat die Eigenschaften der rekonstruierten RNA-Polymerase anschließend mit denen eines modernen bakteriellen Enzyms verglichen.

Unterschiede in der Reaktion

Beide Enzyme arbeiten mit ähnlicher Präzision, weisen aber in ihrer Reaktion deutliche Unterschiede auf. Bisher war die Tendenz der modernen Enzyme, ihre Arbeit immer wieder zu unterbrechen, nicht als evolutionärer Vorteil zu erkennen. Für die Biochemie war dies deshalb über Jahrzehnte rätselhaft. Erst im Vergleich mit der Arbeitsweise des rekonstruierten Enzyms konnte das Rätsel jetzt gelöst werden. Das anzestrale Enzym arbeitet prozessiv, also ununterbrochen in einem fort, entfernt dabei aber immer mal wieder bereits korrekt angefügte Nukleotid-Bausteine. Die Ergebnisse zeigen, dass aus Enzym-Rekonstruktionen viel über die Evolution und die Eigenschaften der modernen Enzyme gelernt werden kann und dass viele Fragestellungen nur durch das Zusammenspiel zwischen Bioinformatik und Biochemie in einem Hin und Her zwischen Computerberechnungen und Laborexperimenten gelöst werden können.

Evolutionäre Stammbäume von Bakterien

Anhand von Gensequenzen lassen sich auch von Bakterien evolutionäre Stammbäum erstellen. Ausgehend von der heutigen, breit gefächerten Vielfalt von Organismen in einem Spezies-Baum kann der Evolutionsweg einzelner Gene entlang der Verwandtschaftsverhältnisse und Abzweigungen rekonstruiert und akribisch bis zu einem gemeinsamen Ursprung zurückverfolgt werden. Die Rekonstruktion geschieht im Wesentlichen in drei Schritten. Zunächst werden Datenbanken nach entsprechenden modernen Enzymen durchsucht, um die Abfolge der Aminosäure-Bausteine untersuchen zu können. Aus den erhaltenen Sequenzen kann dann zurückgerechnet werden, wie die ursprüngliche Sequenz ausgesehen haben müsste. Die entsprechende Gensequenz, die für das alte Enzym codiert, wird dann in Labor-Bakterien eingebracht, sodass sie das gewünschte Protein bilden. Anschließend kann das Enzym detailliert auf seine Eigenschaften hin untersucht und mit modernen Enzymen verglichen werden. „Als die Nachricht aus dem Labor kam, dass das rekonstruierte Enzym die C-C-A-Addition durchführt, und das sogar in einem breiteren Temperaturbereich als heutige Enzyme, war das der Durchbruch“, erinnert sich Sonja Prohaska.

Arbeitspausen erhöhen die Effizienz

Wie Organismen, werden auch Enzyme durch Evolution optimiert. Die Arbeit (Katalyse), die ein Enzym verrichtet, läuft dabei in der Regel umso schneller und besser, je stärker es sein Substrat binden kann. Das rekonstruierte anzestrale Enzym mache genau das, es halte das Substrat, die tRNA, fest und hänge die drei C-C-A-Nukleotide nacheinander an, ohne abzusetzen, so die Forscherinnen und Forscher. Moderne tRNA-Nukleotidyltransferasen dagegen arbeiten distributiv, also etappenweise mit Pausen, in denen sie ihr Substrat immer wieder loslassen. Dennoch sind sie effizienter und schneller als ihr anzestraler Vorgänger. Das irritierte die Forscherinnen und Forscher. Wieso fallen die modernen Enzyme immer wieder von ihrem Substrat ab? Die Erklärung sei im Phänomen der Rückreaktion zu finden, bei der die eingebauten Nukleotide vom Enzym wieder entfernt werden. Während die starke Bindung des anzestralen Enzyms an das Substrat ein nachträgliches Entfernen zur Folge habe, werde die Rückreaktion bei modernen Enzymen durch das Loslassen des Substrates fast gänzlich verhindert. Dadurch könnten sie effizienter arbeiten als ihre Vorgänger.

Unerwartetes Ergebnis

„Wir konnten jetzt endlich erklären, warum die modernen tRNA-Nukleotidyltransferasen trotz distributiver Arbeitsweise so effizient arbeiten“, so Mario Mörl. „Die Erkenntnis hat uns im Team völlig überrascht. Wir haben so etwas nicht erwartet. Die Frage hatten wir schon vor 20 Jahren und können sie jetzt endlich mit den Rekonstruktionsmethoden der Bioinformatik beantworten. Diese enge Zusammenarbeit zwischen Bioinformatik und Biochemie besteht in Leipzig schon seit mehreren Jahren und hat sich nicht zum ersten Mal für beide Seiten als großer Vorteil erwiesen.“

Literatur:
Hager M, Pöhler M-T, Reinhardt F, et al.: Substrate affinity versus catalytic efficiency: Ancestral sequence reconstruction of tRNA nucleotidyltransferases solves an enzyme puzzle. Molecular Biology and Evolution, 2022;, msac250, DOI: doi.org/10.1093/molbev/msac250.

Quelle: idw/Uni Leipzig

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