„Vater der modernen Chemie“

Der schwedische Mediziner und Chemiker Jöns Jakob Berzelius
Christof Goddemeier
„Vater der modernen Chemie“
J. J. Berzelius in einer Lithografie von 1836 © P. H. van den Heuvell, gemeinfrei, wikimedia
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Nicht bloß dem großen Meister, dessen Arbeiten meine Vorbilder sind, gilt diese Zuneigung, sondern auch dem liebevollen wahren Freunde, der mich, den Irrenden, oft väterlich geleitet, dessen wohlwollende Güte für mich sich nie vermindert hat“, schrieb der Chemiker Justus von Liebig 1842 über Jöns Jakob Berzelius.

Die Worte sollten als Teil einer Widmung seinem Buch „Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Physiologie und Pathologie“ vorangehen, doch Berzelius fand sie übertrieben und lehnte ab. Liebig verkürzte zu „Meinem Freunde J. J. Berzelius als ein Zeichen inniger Zuneigung und aufrichtiger Hochachtung gewidmet“. Da war das Verhältnis der beiden indes schon nicht mehr ungetrübt. Ein Jahr später kam es zum Bruch, den auch vermittelnde Freunde nicht rückgängig machen konnten.

Berzelius nimmt in der Geschichte der Chemie eine herausragende Stellung ein. Schon Antoine Lavoisier und John Dalton hatten eine Zeichensprache für die chemischen Elemente entwickelt. Berzelius etablierte eine Symbolsprache, die auf den ersten Buchstaben der lateinischen Worte basierte, und bestimmte etliche Atom- und Molekülmassen genau. Er entwickelte ein erstes Modell zum Verständnis der Elektrolyse und entdeckte die Elemente Cer (auch Cerium), Selen und Thorium. Andere Elemente wie Silicium, Titan und Vanadium stellte er zum ersten Mal in reiner Form dar. Zudem verwendete er erstmals den Begriff „Organische Chemie“, beschrieb und benannte Phänomene wie Isomerie und Allotropie. Die von Eilhard Mitscherlich und anderen entdeckte beschleunigte Stoffumwandlung durch einen Hilfsstoff bezeichnete Berzelius als Katalyse. Der erste Band seines „Lehrbuchs der Chemie“ erschien 1808, weitere Bände folgten. Das Werk wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und beeinflusste die Entwicklung der Chemie im 19. Jahrhundert maßgeblich.

1779 wurde Berzelius als Sohn eines Pfarrers geboren. Sein Vater starb an Tuberkulose, als er vier Jahre alt war. Die Mutter heiratete erneut, seinen Stiefvater Anders Ekmark beschrieb Berzelius als Mann von untadeligem Charakter, der die beiden Kinder seiner Frau sowie seine fünf eigenen zur Beobachtung der Natur erzog. Als Berzelius neun Jahre alt war, starb auch seine Mutter, und er wuchs bei einem Onkel und Vormund auf. Nach dem Besuch des Gymnasiums studierte er zunächst in Uppsala Medizin. Die Universitäten in Uppsala und Lund standen zu dieser Zeit noch stark unter geistlichem Einfluss und wehrten sich gegen die Berufung naturwissenschaftlicher Lehrer. Auf dem Gebiet der Chemie trugen sie so gut wie nichts bei. So konnte Berzelius von seinen Lehrern nicht viel lernen und brachte sich seine Kenntnisse und Fertigkeiten im Wesentlichen selbst bei. Nach bestandenem Physikum las er mit seinem Stiefbruder Christoph Girtanners Buch „Anfangsgründe der antiphlogistischen Chemie“ und machte sich mit Lavoisiers Theorien vertraut. In seiner Dissertation „Effekte von galvanischer Elektrizität auf Patienten“ (1802) zeigte er, dass der damals modische Galvanismus für Patienten keinen medizinischen Nutzen brachte.

Bis etwa 1775 herrschte in der Chemie die „Phlogistontheorie“ vor. Ihr zufolge entweicht das Phlogiston, eine hypothetische Substanz, allen brennbaren Körpern bei der Verbrennung und dringt bei Erwärmung in sie ein. Ab den 1770er-Jahren widerlegten Lavoisier und andere die Phlogistontheorie, und die Rolle des Phlogiston ging auf den Sauerstoff über: Verbrennungen betrachtete man nun als Vereinigung des brennbaren Stoffes mit Sauerstoff. Aus Verbrennungen mit bestimmten Gewichtsverhältnissen resultieren demnach Sauerstoffverbindungen, sogenannte Oxide, die entweder sauer oder alkalisch reagieren. Saure und alkalische Verbrennungsprodukte vereinigen sich zu neutralen Verbindungen, den Salzen.

Zwei weitere bedeutende Entdeckungen trugen um die Wende zum 19. Jahrhundert entscheidend zur Weiterentwicklung der Chemie bei: die Entdeckung strömender Elektrizität durch Luigi Galvani und Alessandro Volta und die Konstruktion der Voltaschen Säule, der ersten funktionierenden Batterie. Erst diese Erfindung ermöglichte die Anwendung von Elektrizität in der Chemie und zeigte die enge Verbindung von chemischen Vorgängen und Elektrizität. Bald nach Bekanntwerden der Voltaschen Erfindung stellte Berzelius selbst eine Batterie her. Weil Silber zu teuer war, ersetzte er es durch Kupfer. Die Funktion der Säule wurde dadurch offenbar nicht wesentlich beeinträchtigt. In Jena veränderte Johann Wilhelm Ritter die Batterie in gleicher Weise.

1802 erhielt Berzelius eine unbezahlte Anstellung als Adjunkt der Medizin und Pharmazie beim Königlichen Collegium medicum in Stockholm. Erst 1807 wurde er dort Professor mit einem jährlichen Gehalt. Bis dahin war er, der in geschäftlichen Angelegenheiten keine glückliche Hand hatte, auf Einnahmen aus seiner Tätigkeit als Armenarzt angewiesen. In Stockholm stand Berzelius zunächst kein Labor zur Verfügung; doch der Bergwerksbesitzer Wilhelm Hisinger bot ihm in seinem Haus eine Wohnung an. Hier führten die beiden erste elektrochemische Experimente durch. Dabei fanden sie, dass eine Alkalisalzlösung durch die Voltasche Säule in eine Säure und eine Base zerlegt wird. Berzelius nahm nun an, dass alle Salze aus einem negativen und einem positiven Pol bestehen und gleichsam kleine molekulare Magnete darstellen. In einem elektropositiven Teilchen überwiege die positive, in einem elektronegativen Teilchen die negative Ladung. So bestand ihm zufolge etwa Kaliumsulfat aus dem elektropositiven KO und dem elektronegativen SO3. Der elektronegativste Stoff war laut Berzelius der Sauerstoff. Seine „dualistische Theorie“ galt zwar nur etwa 20 Jahre, doch noch heute werden die Begriffe „elektropositiv“ und „elektronegativ“ verwendet, um polarisierte Bindungen in Molekülen zu kennzeichnen.

Ab 1807 experimentierte Berzelius mit dem Ziel, „die bestimmten und einfachen Verhältnisse aufzufinden, nach welchen die Bestandteile der unorganischen Natur mit einander verbunden sind“. Zu diesem Zeitpunkt hatten Joseph-Louis Proust und John Dalton bereits das „Gesetz der konstanten Proportionen“ sowie das „Gesetz der multiplen Proportionen“ formuliert. Mit Dalton nahm Berzelius zur Erklärung dieser Gesetzmäßigkeiten an, dass Materie nicht unbegrenzt mechanisch teilbar sei. Für die nicht mehr teilbaren, kleinsten Teilchen bevorzugte er den Begriff „Atom“. Dabei unterschied er Atome einfacher und zusammengesetzter Körper. Seine Experimente lieferten eine Fülle von Belegen des Gesetzes der einfachen und multiplen Proportionen. Mittels genauer Analysen berechnete er die prozentische Zusammensetzung anorganischer Verbindungen. Daraus ergaben sich auf dem Boden der Atom- und Molekulartheorie die Atom- und Molekulargewichte. Mit seinen Untersuchungen stellte er die „antiphlogistische Chemie“ auf eine solide Basis.

Mit seiner umfangreichen Analysetätigkeit verband sich automatisch der Wunsch, vorhandene Methoden zu verbessern und neue zu erfinden. Berzelius’ Methoden, Stoffe voneinander zu trennen, galten als die besten seiner Zeit. Schüler wie Heinrich Rose entwickelten sie später weiter.

Ab 1814 bezog Berzelius organische Stoffe in seine Untersuchungen ein. Als „organisch“ bezeichnete man damals Substanzen, die sich in pflanzlichen und tierischen Organismen finden und vermutete, dass eine geheimnisvolle Lebenskraft sie erzeuge. Heute umfasst die organische Chemie ihrer Definition gemäß alle Verbindungen des Kohlenstoffs mit anderen Elementen, derzeit sind etwa 19 Millionen bekannt. Lavoisier hatte angenommen, dass in der unorganischen Natur alle oxidierten Stoffe ein einfaches Radikal haben, während organische Substanzen aus Oxiden mit zusammengesetzten Radikalen bestünden. Diese Ansicht teilte Berzelius. Dabei verstand man unter einem Radikal das Atom oder die Atomgruppe, die in den Sauerstoffverbindungen an den Sauerstoff gebunden ist, „der von Sauerstoff befreite Rest eines Körpers“. Schwefel und Phosphor etwa waren die Radikale der Schwefelsäure und der Phosphorsäure. Bei pflanzlichen Stoffen sollte das Radikal meistens aus Kohlenstoff und Wasserstoff, bei tierischen Substanzen zusätzlich aus Stickstoff bestehen. Mittels der „organischen Elementaranalyse“ konnte man herausfinden, wie viel elementare Bestandteile in einem organischen Stoff vorhanden sind. Dazu wurde dieser vollständig oxidiert, das heißt der in ihm enthaltene Kohlenstoff ging in Kohlensäure und sein Wasserstoffgehalt in Wasser über. Stickstoff wurde als Gas frei. Aus der Menge jedes dieser Verbrennungsprodukte ließ sich der Gehalt an Kohlenstoff, Wasserstoff und Stickstoff in Prozent berechnen.

So bedeutend Berzelius als Empiriker und Praktiker war, so viel Wert legte er zugleich auf Theorie und Systematik: „Die Wissenschaften erfordern immer eine Theorie, um unsere Ideen in eine gewisse Ordnung zu bringen, ohne welche die Einzelheiten zu schwer zu behalten wären. Jede Theorie ist nichts anderes als eine Art, sich das Innere der Erscheinungen vorzustellen“, schrieb er in seinem Lehrbuch. Dabei hielt er es für eine „tadelnswerte Neuerung, eine schon angenommene Erklärungsart mit einer anderen zu vertauschen, deren Richtigkeit nicht auf größere Wahrscheinlichkeit gegründet ist“. 1822 lernte Berzelius Johann Wolfgang von Goethe kennen und untersuchte mit ihm den Kammerbühl einen erloschenen Vulkan. Dabei erläuterte Berzelius dem Dichter, wie man das Lötrohr bei der Untersuchung von Mineralien einsetzte. Bei der Versammlung der Naturforscher in Hamburg 1830 traf Berzelius den 27-jährigen Liebig und war so beeindruckt, dass er ihn zu einem Briefwechsel einlud. Die beiden sahen sich nur dieses eine Mal, eine mehrfach geplante Reise Liebigs nach Stockholm kam nicht zustande. Beide schätzten einander sehr, und doch kam es wegen unterschiedlicher theoretischer Ansichten ab Mitte der 1830er-Jahre zu einer zunehmenden Entfremdung. Liebig war mit Berzelius’ Annahme einer „katalytischen Kraft“ nicht einverstanden – seiner Ansicht nach behinderte sie den wissenschaftlichen Fortschritt. Und Berzelius versagte der von Jean Baptiste Dumas 1834 begründeten Substitutionstheorie – Substituierbarkeit des Wasserstoffs organischer Verbindungen durch zum Beispiel Halogene – die Zustimmung. Entsprechende Experimente Liebigs und Friedrich Wöhlers sowie der französischen Forscher kritisierte er und versuchte, sie mithilfe seiner elektrochemischen Theorie zu deuten. In einem Schreiben an die Pariser Akademie stellte er sich gegen Liebigs Annahmen, worauf dieser öffentlich gegen Berzelius Stellung bezog. „(. . .) die Zügel sind aus seiner Hand geglitten, er erwacht darüber: der Löwe, dem die Zähne stumpf geworden sind, erhebt darüber ein Gebrülle, was keine Maus mehr erschreckt“, schrieb Liebig 1838 an Wöhler.

1835 heiratete Berzelius die mehr als 30 Jahre jüngere Johanna Poppius, Tochter eines langjährigen Freundes. Die Ehe blieb kinderlos, tat Berzelius aber offenkundig gut: „Ich bin dick und rund wie ein Propst und lebe sehr glücklich“, schrieb er an Wöhler. Mit seiner jungen Frau reiste er mehrmals nach Dänemark, doch zunehmend spürte er seine Kräfte schwinden: „Aber es liegt in der Natur der Sache, dass alles abwärts geht, wenn man alt wird, und ich bin weit davon entfernt, darüber wehmütig gestimmt zu sein (. . .)“, schrieb der 60-Jährige an Wöhler. Am 7. August 1848 ist Jöns Jakob Berzelius 68-jährig in Stockholm gestorben.

Literatur

1.    Hjelt E: Geschichte der Organischen Chemie. Wiesbaden: Springer Fachmedien 1916.

2.    Melhado E: Jacob Berzelius. Stockholm: The University of Wisconsin Press 1981.

3.    Prandtl W: Humphry Davy, Jöns Jacob Berzelius. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 1948.

Entnommen aus MTA Dialog 12/2020

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