Auf der Spur einer historischen Röntgenröhre: eine Entdeckungsreise

Efim Flom
Foto der „Rapid“ Ionen-Röntgenröhre
Abb. 1: „Rapid“ Ionen-Röntgenröhre © E. Flom
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Vor einiger Zeit hat der Autor den Artikel „Widmung einer Röhre und ihrem Schöpfer“ in der MT im Dialog (2021; 22: 5–6) veröffentlicht. Diese Publikation wurde durch die Begegnung mit einer Ionen-Röntgenröhre inspiriert. Es handelt sich um einen Röntgenröhrentyp, der kurz nach der Entdeckung der Röntgenstrahlen durch Wilhelm Conrad Röntgen am 8. November 1895 in der Medizin zur Diagnostik und Therapie eingesetzt wurde. In diesem Jahr wird ein Jubiläum gefeiert: Im November wird der 130-jährigen Geschichte der Röntgenstrahlung gedacht.

In diesem Artikel kommt die Begeisterung des Autors für die Röntgenpioniere zum Ausdruck. Es sind Ärzte, Ingenieure und Glasbläser, die mit kreativen Ideen, technischem Verständnis und viel Enthusiasmus die Röntgentechnik zur Bekämpfung von Krankheiten einsetzten und damit die Welt veränderten. Friedrich Dessauer, einer der bekanntesten Röntgenpioniere, Ingenieur und Physiker sowie Gründer der damals bedeutenden Firma VEIFA, schrieb 1945: „Die Röntgentechniker und Röntgenphysiker waren fleißige Leute. In der hier skizzierten Entwicklungszeit von 1896 bis etwas nach dem Ersten Weltkrieg, also der ersten fünfundzwanzig Jahre, sind weit mehr als zehntausend Veröffentlichungen auf diesem Gebiet erschienen. Jetzt steht diese Technik auf solider wissenschaftlicher Grundlage. Aber damals mussten wir alle auf ungeklärtem Terrain arbeiten.“

Heutige Radiologinnen und Radiologen, Medizinphysikerinnen und -physiker sowie MTR kennen Ionenröhren und deren Art der Röntgenstrahlenerzeugung entweder nicht oder betrachten sie als zu primitiv. Die überall in der Radiologie verwendeten Heizkathoden-Röntgenröhren (Coolidge-Röhren) sind seit 1913, also seit circa 112 Jahren, mit demselben Prinzip im Einsatz.

Die im Artikel beschriebene Ionen-Röntgenröhre ist zusammen mit dem Funkeninduktor, über den die Röhre zu Beginn der Entwicklung der Röntgentechnik mit Impulsstrom versorgt wurde, in einer Vitrine im Foyer der MT-Schule der Unikliniken Düsseldorf ausgestellt. Seit einigen Wochen ist die Schule wieder im Besitz einer historischen Ionen-Röntgenröhre. Die Schule hat sie von einem Zahnarzt erhalten, dessen Vater Radiologe war und sie während seiner Tätigkeit als Arzt erworben hatte. Diese Röntgenröhre ist tatsächlich ein Schatz der radiologischen Geschichte.

Auf der Glaskugel der Ionenröhre prangt die Aufschrift: „ORIGINAL MÜLLER RÖNTGENRÖHRE. RAPID DIAGNOSTIK“.

Es handelt sich um eine Ionenröhre mit wassergekühlter Antikathode und Regeneriervorrichtung für die Gaszufuhr. Die Röntgenröhre wurde vermutlich zwischen 1911 und 1914 von der berühmten Firma C. H. F. Müller in Hamburg hergestellt. Bereits wenige Wochen nach der Entdeckung der Röntgenstrahlen stellte der Hamburger Glasbläser Carl Heinrich Florenz Müller, der eine Werkstatt für wissenschaftliche Glasinstrumente, Geißler-Röhren und dekorative Kunstgläser besaß, eine der ersten Röntgenröhren her.

Angeregt durch die Assistenzärzte der Chirurgie am Eppendorfer Krankenhaus in Hamburg – Hermann Gocht, Autor des 1898 bei Enke in Stuttgart erschienenen Lehrbuchs der Röntgen-Unter­suchung für Mediziner; Gustav Opitz, dem als Erstem 1897 die ­Darstellung der Blutgefäße an Leichenteilen gelang; der Physiker Bernhard Walter, Vorstandsmitglied der Deutschen Röntgengesellschaft, der die Natur und Technik der Röntgenstrahlen erforschte; sowie dem berühmten Professor Dr. Heinrich Albers-Schönberg, der 1905 die Deutsche Röntgengesellschaft gründete und die erste Ausgabe der „Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen“ herausgab – hat die Firma bis Mai 1905 50.000 Röntgenröhren hergestellt.

 

Die vier oben genannten Persönlichkeiten – Professor Dr. Heinrich Ernst Albers-Schönberg, Professor Dr. Hermann Gocht, Dr. med. Gustav Opitz und der Röntgenfabrikant Carl Heinrich Florenz Müller – sind infolge schädlicher Wirkungen der Röntgenstrahlung verstorben. Sie alle sind im „Ehrenbuch der Röntgenologen und Radiologen aller Nationen“ verzeichnet, das 1959 bei Urban & Schwarzenberg erschienen ist. In dem Buch ist der Nachruf auf Carl Heinrich Florenz Müller aus der Zeitschrift „Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen“, 1912–1913, Band 19, Seite 475, verfasst von Professor Dr. Hans Meyer, zitiert: „Die schönste und glücklichste Zeit begann für diesen rastlos tätigen, immer vorwärtsschreitenden Mann, als Röntgen seine große Entdeckung gemacht hatte. Durch die intime Kenntnis der Crookesschen Röhren geradezu prädestiniert.“

 

Eines der größten Probleme der Röntgenröhre ist und war die enorme Hitze, die im Fokusbereich der Antikathode (bei Heiz­kathoden-Röntgenröhren ist es die Anode) entsteht. Die Spitze der Elektrode der ersten Röntgenröhren war mit einem dünnen Platinspiegel bedeckt. Die Erwärmung konnte so stark werden, dass sie – bei fehlender spezieller Kühlvorrichtung – zum Schmelzen des Antikathodenmetalls an der Fokusstelle führte. Dieser sehr leicht auftretende Unfall wird als „Anstechen der Antikathode“ bezeichnet. Bereits im Jahr 1899 ließ die Firma C. H. F. Müller eine Kühlvorrichtung patentieren: die wassergekühlte Antikathode.

Die Wasserkühlung der Röntgenröhre war etwa 30 Jahre lang eine gängige Methode, bis die Firma Philips im Jahr 1929 die Dreh­anodenröhre („Rotalix“-Röhre) entwickelte und einführte. Bereits 1927, nach mehreren Jahren der Zusammenarbeit, begannen Philips und C. H. F. Müller mit einem Zusammenschluss.

Ein weiteres Zitat: „Was die Müllerröhren so außerordentlich wertvoll macht, ist die direkte Wasserkühlung. Es ist nicht allein die Qualität der Glasbläserarbeit, welche ich bei ihnen in erster Linie schätze, sondern das Wasserkühlverfahren, ferner die Einführung meiner auf Grund eigener Erfahrungen gemachten allgemeinen Verbesserungsvorschläge.“ (aus dem Buch „Die Röntgentechnik“, dritte Auflage, Hamburg, Lucas Gräfe & Sillem, 1910, bearbeitet von Prof. Dr. Albers-Schönberg und Prof. Dr. Walter)

Im Laufe der Jahre hat die Firma ihre wassergekühlten Ionen-Röntgenröhren kontinuierlich verbessert. Dabei kam zirkulierendes Wasser zum Einsatz. Professor Albers-Schönberg verwendete ­stattdessen flüssige Kohlensäure. Später kamen Siedewasser-gekühlte Röntgenröhren für eine noch stärkere Beanspruchung hinzu. Auch die Form der wassergekühlten Röntgenröhre für Untertisch-Röntgenaufnahmen wurde von C. H. F. Müller modifiziert (Katalog-Nr. 14L).

 

Im Jahr 1911 brachte die Firma eine neue wassergekühlte Röhre auf den Markt. Aus der Werbung dazu: „... vereinigt in sich die bekannten Vorzüge der Kühlröhre für langzeitige Aufnahmen und Durchleuchtungen mit denen der metallreichen Röhren für stärkste Moment- und Zeitbelastungen … Scharfer Brennpunkt! Geringe Gefahr des Anstechens!“ Die „Neuheit auf dem Gebiete der Röntgentechnik“ erhielt den Namen „Rapid“.

Abbildungen 8 bis 10 zeigen Beispiele für die damalige Verwendung der Rapid-Röhre von C. H. F. Müller zu sehen.

 

Abbildung 9 aus dem Jahr 1915 zeigt die gynäkologische Bestrahlung einer Patientin. Die therapeutische Verwendung von Röntgenstrahlen in der Gynäkologie begann 1913 durch die experimentellen Arbeiten von Prof. Albers-Schönberg, Dr. Ludwig Halberstädter, Prof. Dr. Bernhard Krönig und seinem Schüler Prof. Dr. Otto ­Pankow. Letzterer war Direktor der Frauenklinik in den Düsseldorfer Krankenanstalten und hat viel für die Gesundheit der Frauen getan.

 

Und noch zwei Briefe aus den Jahren 1912 und 1913 (Abbildungen 11 und 12) schildern den Schriftverkehr zwischen den Städtischen Krankenanstalten Düsseldorf (Medizinische Klinik) und dem Röntgenröhren-Lieferanten C. H. F. Müller. In beiden Dokumenten geht es um „Rapid“-Röhren, die kaputtgegangen sind. Die erste hat eine derart „angestochene“ Antikathode, dass sie in keiner Weise mehr zu gebrauchen ist. Die zweite ist vermutlich infolge einer ­„verkehrt angepolten“ Stromschaltung (Pluspol und Minuspol wurden vertauscht) ebenfalls kaputtgegangen.

Es gab damals noch ein weiteres Problem bei Ionenröhren. Röntgenstrahlen entstehen in Ionenröhren, wenn durch Stoßionisationen unter hoher Spannung Elektronen aus Luftmolekülen in der Röhre freigesetzt werden und auf ihrem Weg von der Kathode zur Anode auf die Antikathode treffen. Die Energie der Strahlung hängt unter anderem vom Material der Antikathode ab. Während des Betriebs der Ionenröhre wird von der aus Aluminium bestehenden Kathode Metall verdampft, das durch den Getter-Effekt Gasionen bindet.

Dies hat jedoch zur Folge, dass sich die Anzahl der Luftmoleküle im Laufe des Betriebes immer weiter verringert und die Röhre „härter“ wird. Für den Weiterbetrieb werden immer höhere Spannungen erforderlich, bis die Röntgenröhre schließlich unbrauchbar wird. Um die Röhre wieder „weicher“ zu machen, benötigt man Regeneratoren. Dazu führt man der Röhre über diese Einrichtungen winzige Mengen Luft oder ein anderes Gas zu.

Die Regeneriervorrichtung der C. H. F. Müller-Röntgenröhre der Schule ist eine weitere Modifikation der „Rapid“-Röhre.

Der Regulator in Abbildung 13 stammt nicht von C. H. F. Müller, sondern ist eine Erfindung der Firma Emil Gundelach aus Gehlberg (Thüringen), die damals zu den bedeutendsten (45.000 Stück bis 1905) und kreativsten Herstellern von Röntgenröhren zählte.

 

Seit 1909 ist eine Regeneriervorrichtung in Gundelach-Röntgenröhren eingebaut und bewährt. „Zur Verwendung kommt ein kondensatorähnliches Gebilde, bestehend aus einem durchschlagsicheren Glaszylinder, der beiderseits mit einer starken Schicht eines Halbleiters belegt ist, welcher durch ein besonderes Verfahren stromleitend und sehr aufnahmefähig für Gase gemacht wurde. Ist das Röntgenrohr zu hart, so legt man den kurzen Drahtbügel b dicht an die Anodenkappe A. Den anderen Drahtbügel a stellt man so weit von der Kathodenkappe K entfernt, welchen die Röntgenröhre nach der Regenerierung besitzen soll. Es wird nun bei Einschaltung der Röntgenröhre in den Stromkreis der größte Teil des Stromes durch den Kondensator gehen, weil die Röntgenröhre einen höheren Widerstand hat, wobei etwas Gas aus den Belegungen ausgetrieben wird. Die Regenerierung ist erst dann als beendet zu betrachten, wenn die Nebenschlußfunken (sic!) nur noch vereinzelt überschlagen. Ist das Vakuum der Röntgenröhre bis auf den gewünschten niedrigen Grad gebracht worden, so schlägt man beide Drahtbügel zurück.“ – So die Beschreibung der Vorrichtung von Prof. Dr. Hermann Gocht.

Das ist der Nachweis dafür, dass die beiden deutschen Firmen kooperiert haben. Die in Gehlberg hergestellte Kondensator-Regeneriervorrichtung von Gundelach wurde in Hamburg von C. H. F. Müller eingebaut.

 

Nun kam für die MTR-Schule die spannendste Frage: Funktioniert die historische Röntgenröhre noch? Und tatsächlich – nach etwa 110 Jahren strahlt sie wieder!

Genau wie die „Enkelin“-Röhre von Pressler (siehe Artikel „Widmung einer Röhre und ihrem Schöpfer“) wird die neue Röhre nur einmal im Jahr, nämlich an einem Unterrichtstag um den 8. November (Tag der Röntgenentdeckung), für die neuen MTR-Auszubildenden eingeschaltet. Die an den Funkeninduktor angeschlossene Ionenröhre knistert während der Gasentladung, fluoresziert grün im abgedunkelten Raum und gibt schwache Röntgenstrahlung ab. Die Anzeige des Messgeräts zeigt eine Dosisleistung von circa 60 Mikrosievert pro Stunde an, was eine solche Demonstration für Unterrichtszwecke nur hinter einem Bleiglasfenster rechtfertigt.

Der Autor kennt die Begeisterung der meisten neuen Auszubildenden, wenn sie zum ersten Mal – natürlich ironisch gemeint – „echte“ Röntgenstrahlen sehen, die im Gegensatz zu den unsichtbaren Strahlen der schuleigenen Röntgenanlage mit einer modernen Drehanodenröhre in einem ölgefüllten Gehäuse erzeugt werden. Das weckt Neugier und Interesse für die Röntgenphysik und -technik – das eigentliche Ziel solcher Demonstrationen.

 

Das Aufgabenprofil von Medizinischen Technologinnen und Technologen in der Radiologie hat sich stark verändert. In vielen medizinischen Einrichtungen wird der Bereich Radiologie durch fortschreitende Automatisierung und neue Technologien erweitert. Die neuen Technologinnen und Technologen übernehmen heute mehr Aufgaben in den Bereichen Bildgebung, Qualitätsmanagement und IT-gestützte Prozesse. Der Fokus der Aufgaben hat sich stärker auf technologische Verfahren, Workflow-Optimierung und interdisziplinäre Zusammenarbeit verschoben. Die fachliche Kernkompetenz liegt jedoch nach wie vor in der medizinisch-technischen Radiologie und dem dazugehörigen physikalisch-technischen Verständnis. Die 110 Jahre alte Röntgenröhre „Made in Germany“, von Menschen entwickelt und hergestellt, die ihr Leben für den medizinischen Fortschritt geopfert haben, kann dabei helfen, ein solches Verständnis aufzubauen.

 

Entnommen aus MT im Dialog 11/2025

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