Bakterienmetabolismus und Hydrogenasen

Die britische Biochemikerin und Mikrobiologin Marjory Stephenson (1885–1948)
Christof Goddemeier
Foto des Buchs „Bacterial Metabolism“ von Marjory Stephenson
© Published by Longmans, Green and Co, London, 1930
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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es für junge Wissenschaftlerinnen noch keine etablierten Karrieren, zumal für Frauen in Cambridge. Als letzte im Land erlaubte die dortige Universität Frauen den gleichen Zutritt wie Männern – das war erst im Jahr 1948 möglich, dem Jahr, in dem Marjory Stephenson starb.

Wissenschaftlich ambitionierte Frauen fanden zu dieser Zeit ihren Platz eher in neuen Fächern wie der Biochemie und Kristallografie. Ehrgeizigen jungen Männern, die bereits eine Familie hatten, erschienen diese Disziplinen sowohl wissenschaftlich als auch finanziell zu riskant.

In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts leitete Frederick Gowland Hopkins das Biochemische Institut der Universität Cambridge. Er holte etliche junge Wissenschaftlerinnen an die Universität und ermutigte sie, ihren Weg zu finden. Stephenson war eine von ihnen, 1919 begann sie ihre Arbeit in Cambridge. 30 Jahre lang blieb sie dort und spielte eine führende Rolle in der Erforschung des Stoffwechsels von Bakterien. Hopkins war selbst ein außergewöhnlicher Wissenschaftler. 1861 geboren, gilt der Mediziner und Chemiker als Begründer der Vitaminforschung. 1906 konstatierte er, dass Menschen und höher entwickelte Tiere zusätzlich zu Eiweißen, Fetten, Kohlenhydraten und anorganischen Salzen weitere Stoffe benötigen, die für Wachstum, Erhalt und Fortpflanzung unerlässlich sind. Er entdeckte das Tripeptid Glutathion und die essenzielle Aminosäure Tryptophan sowie die Vitamine A und B. Zusammen mit dem niederländischen Arzt und Bakteriologen Christiaan Eijkman (1858–1930) erhielt er 1929 „für die Entdeckung der wachstumsfördernden Vitamine“ den Nobelpreis für Medizin oder Physiologie. Zudem besaß Hopkins das Talent, junge Wissenschaftler zu entdecken und zu fördern. Dabei ließ er sie ein bestimmtes Thema selbstständig entwickeln, stand jedoch als Mentor zur Verfügung.

Stephenson begann ihre wissenschaftliche Karriere relativ spät, denn zunächst musste sie ihren Lebensunterhalt mit Unterrichten verdienen. Dann unterbrach der Erste Weltkrieg ihre Arbeit. Neben Hopkins spielte der Physiologe Walter Morley Fletcher (1873–1933) eine wichtige Rolle in ihrem Leben. Zwischen den beiden Weltkriegen leitete er das Medical Research Council (MRC), das sich in dieser Zeit auf Grundlagenforschung konzentrierte. 1929 bot er Stephenson einen unbefristeten Vertrag mit dem MRC an – eine überaus privilegierte Position für jeden Wissenschaftler, egal ob weiblichen oder männ­lichen Geschlechts.

Schon der Vater begeisterte sich für Naturwissenschaften

Marjory Stephenson wurde 1885 in Burwell etwa 20 Kilometer nordöstlich von Cambridge geboren. Beide Großväter hatten Rennpferde ausgebildet. Ihr Vater Robert zog 1866 nach Burwell, arbeitete als Landwirt und besaß später eine Zementfabrik. Er war in der Lokalpolitik aktiv und hatte Ämter als Gemeindevorstand und Friedensrichter inne. Zudem setzte er sich für Fortschritte im Bildungswesen ein. Gemeinsam mit seiner Frau Sarah hatte er einen Sohn und drei Töchter, Marjory war die jüngste von ihnen. Der Vater wird als „Workaholic“ mit ausgeprägtem Pflichtgefühl beschrieben, das er an seine Kinder weiterzugeben suchte. Marjory schrieb, dass sie achteinhalb Jahre von ihrem nächsten Geschwister trennten und dass sie „fast als Einzelkind“ aufgewachsen sei. Ihr Vater begeisterte sich für Naturwissenschaften: „Er war auch sehr an wissenschaftlicher Landwirtschaft interessiert und verschlang jedes Buch, das er dazu in die Hände bekam. Er war Anhänger Darwins und besaß viele seiner Bücher. Später faszinierte ihn die Mendelsche Genetik“, schrieb Stephenson über ihren Vater. Ihre Mutter interessierte sich neben der Arbeit im Haushalt für Kunst und Literatur.

Ab 1903 studierte Stephenson am Newnham College Chemie, Zoologie und Physiologie. Ihr zufolge wurde von diesen Fächern „lediglich Physiologie in den Labors der Universität gelehrt, die anderen waren zu dieser Zeit für Frauen nicht zugänglich“. Zoologie wurde am Balfour Labor unterrichtet, einem Zusammenschluss von Newnham und Girton College, Chemie studierte sie bei Ida Freund (1863–1914). Als erste Universitätsdozentin Großbritanniens suchte diese den naturwissenschaftlichen Unterricht besonders für Frauen zu verbessern. In dieser Zeit hörte Stephenson zum ersten Mal eine Vorlesung von Hopkins, der ihr zufolge eigentlich keine Studenten unterrichtete, sondern den Physiologieprofessor vertrat: „(…) er sprach über Milchsäureproduktion und Muskelkontraktion, und auch wenn viel von dem, was er sagte, spekulativ war, eröffnete es eine neue Gedankenwelt, welche die bisherige Form des Unterrichts nie auch nur hatte ahnen lassen“, schrieb Stephenson. 1906 schloss sie ihre Studien ab, doch als Frau konnte sie keinen wissenschaft­lichen Grad erwerben. Da kein Geld vorhanden war, um Medizin zu studieren, unterrichtete sie zunächst am Gloucester County Training College, dann am Londoner King’s College of Household Science. 1911 erhielt sie die Gelegenheit, im Labor von Robert Plimmer am University College London (UCL) biochemisch zu arbeiten. Er forschte über Vitamine, Proteinchemie, vor allem die Phosphorylierung von Proteinen, und den unterschiedlichen Stellenwert von Proteinen bei der Ernährung. 1912 war Stephenson die einzige Frau am Biochemischen Institut des UCL. Hier lernte sie, wie man die Aktivität von Enzymen bestimmt, und verwendete dazu die Darmschleimhaut als Modellsystem. Zudem erforschte sie die Biosynthese von Fettsäure­estern und publizierte darüber.

Geburt der „Chemischen Mikrobiologie“

Während des Ersten Weltkriegs arbeitete Stephenson in der Leitung von Lazarettküchen und Feldlazaretten in Frankreich und Thessaloniki mit. Nach Kriegsende wurde sie für ihren Einsatz zweifach ausgezeichnet und kehrte nach Cambridge zurück. Mit dem Rest ihres Beit-Stipendiums konnte sie sich ein paar Jahre Zeit lassen, in Hopkins Institut ihre Nische zu finden. Zunächst forschte sie mit anderen über fettlösliche Vitamine. Dann schlug Hopkins ihr vor, die Biochemie von Mikroorganismen zu studieren. Mit ihrer Erfahrung auf dem Gebiet der Biochemie und ihrer Begeisterung für das Fach war Stephenson für diese Aufgabe bestens geeignet – die „Chemische Mikrobiologie“ (F. Sargent, R.G. Sawers) war geboren. Dabei war Stephenson nicht die Erste, die im Institut mit Mikroorganismen arbeitete. Hopkins selbst hatte das gemacht, als er sich mit der Aminosäure Tryptophan beschäftigte. Und Harold Raistrick hatte 1915–1920 bakterielle Aminosäuren studiert. Ein Glück für Stephenson: Raistrick verließ das Institut und entschied sich für eine Karriere in der Industrie. Stephenson passte perfekt in die entstandene Lücke. Früh erkannte sie, dass man ein biologisches System, also auch eine Zelle, nur mit einem interdisziplinären Ansatz verstehen kann. Dazu gehören anorganische und organische Chemie, Biochemie, Genetik und Physiologie. Stephenson etablierte die Untersuchung von Stoffwechselprozessen an ruhenden Zellen (das heißt ohne Zellteilung).

Der schwedische Arzt Torsten Thunberg hatte etwa zur gleichen Zeit mit dem Farbstoff Methylenblau gezeigt, dass in eukaryotischen Zellen sogenannte Redoxreaktionen den Abbau von Substraten steuern. Stephenson und ihr Team fanden, dass Redoxreaktionen auch in Bakterien verbreitet sind. Das bestätigte die Theorie von Hopkins und Albert Jan Kluyver (1888–1956), dass biochemische Prozesse in Organismen einheitlich ablaufen. Bei einer Redoxreaktion werden Elektronen von einem Donator auf einen Akzeptor übertragen. Mit diesen Resultaten wurde klar, dass heterotrophes „Leben“ durch Dehydrierungsreaktionen angetrieben wird. Heterotrophe Organismen können im Unterschied zu autotrophen (Pflanzen, Mikroorganismen, Pilze) ihren Bedarf durch Eigensynthese nicht vollständig decken und sind auf die Zufuhr etwa von essenziellen Aminosäuren mit der Nahrung angewiesen.

Formiat-Hydrogenlyase-(FHL-)Reaktion

Fast 50 Jahre zuvor hatte Felix Hoppe-Seyler gezeigt, dass Flussschlammproben Ameisensäure in CO2 und H2 umwandeln können. Stephenson brachte nun eine Probe des Schlamms aus dem Fluss Great Ouse nahe Cambridge ins Labor mit. Sie hatte beobachtet, dass der Schlamm aktiv gärte, und wollte verstehen, wie Bakterien ohne Sauerstoff wachsen können. Stephenson und Leonard Stickland beobachteten, dass Wasserstoff in einer aus dem Sediment des Flusses gewonnenen anaeroben Mischkultur als H2-Donor verwendet werden konnte. Das Enzym, das die Reaktion antrieb, nannten sie 1931 „Hydrogenase“. Drei Jahre zuvor hatte sie mit Stickland Lactatdehydrogenase aus Bacterium coli (heute Escherichia coli) isoliert. Hydrogenasen katalysieren reversible Reaktionen. Stephenson und Stickland schrieben: „Biochemiker betrachten heute die Übertragung von Wasserstoff als einen wesentlichen Schritt bei der biologischen Oxidation. Eine solche Sichtweise beinhaltet die Vorstellung eines enzymatischen Mechanismus, der das Molekül, von dem der Wasserstoff übertragen wird, aktiviert oder instabil macht. Bisher wurde kein solches Enzym beschrieben, das auf molekularen Wasserstoff einwirkt, obwohl mehrere organische Katalysatoren bekannt sind, die auf diese Weise funktionieren. Es ist jedoch fast sicher, dass ein solches Enzym existiert, da Organismen, die molekularen Wasserstoff produzieren, vermutlich über einen solchen Katalysator verfügen.“ Stephensons Gruppe fand in einem Colibakterium die Formiat-Hydrogenlyase-(FHL-)Reaktion, aus der H2 hervorgeht – ein Meilenstein in mehrfacher Hinsicht: Zum einen ein Beispiel für substratabhängige Enzyminduktion, zum anderen lieferte sie eine Bestätigung für Sticklands früheren Nachweis, dass an der FHL-Reaktion zwei Enzymkomponenten beteiligt sein müssen, eine Dehydrogenase und eine Hydrogenase. Mit diesem Ansatz ließen sich erstmals die H2-abhängige Sulfatreduktion und Methanproduktion beschreiben sowie ein methanogenes Archaeon isolieren. 50 Jahre später wurde der Nachweis erbracht, dass Archaeen ein von Bakterien und Eukaryonten getrenntes Reich darstellen.

1930 erschien Stephensons Buch „Bacterial metabolism“, in dem sie den Stand der Wissenschaft auf den Gebieten der Mikrobiologie und Biochemie zusammenfasste. 1939 und 1949 erschienen zwei weitere Auflagen. Das Buch leitete Studierende an und diente Wissenschaftlern als Nachschlagewerk und erfuhr breite internationale Anerkennung. Allein hätte Stephenson das nicht zustande gebracht. Ab den frühen 1920er-Jahren halfen Studierende wie Harry Quastel, Margaret Whetham und Donald Woods ihr dabei, die „Ganzzellphysiologie“ der Mikroorganismen als Instrument der Forschung zu etablieren (F. Sargent, R.G. Sawers). 1943 erhielt Stephenson eine Dozentenstelle an der Universität Cambridge, vier Jahre später den Lehrstuhl für chemische Mikrobiologie. 1945 wurden sie und die Kristallografin Kathleen Lonsdale als erste Frauen in die Royal Society gewählt. Im gleichen Jahr gründete sie mit anderen die Society for General Microbiology, ihr erster Präsident war Alexander Fleming, der Entdecker des Penicillins. In ihrem letzten Lebensjahr war ­Stephenson zweite Präsidentin der Gesellschaft.

 


Literatur (Auswahl)

1. Buddecke E: Grundriss der Biochemie. Berlin: Walter der Gruyter, 7. Aufl., 1985.
2. Sargent F, Sawers RG: A Paean to the ineffable Marjory Stephenson. Microbiology, 2022 Mar 25; 168 (3). Online, letzter Zugriff am: 20.01.2025.
3. Cope J: Marjory Stephenson ScD FRS (1885–1948). University of Cambridge: www.bioc.cam.ac.uk. Online, letzter Zugriff am: 20.01.2025.
4. Stephenson M: Bacterial metabolism. London: Longmans, Green and Co. LTD, 3. Aufl., 1949.
5. Stephenson M, Stickland LH: Hydrogenase: a bacterial enzyme activating molecular hydrogen: The properties of the enzyme. Biochem J. 1931; 25 (1): 205–14.

 

Entnommen aus MT im Dialog 3/2025

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