Medizinfortschritt mit Nebenwirkung (Teil 5)

Schlussbetrachtungen aus gestriger und heutiger Beobachtung
Hardy-Thorsten Panknin
Titelbild zur historischen Reihe über den Medizinfortschritt
© kentoh/stock.adobe.com
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Medizinische Anwendung und ihre Folgen: Goldman und Mitarbeiter veröffentlichten 1983 eine Studie, in der sie jeweils 100 nach Zufallskriterien ausgewählte Autopsiefälle der vergangenen 30 Jahre (1960, 1970 und 1980) an der Harvard Medical School in Boston, USA, auf das Vorliegen von Fehldiagnosen, falschen und nicht gestellten Diagnosen sowie die angewandten diagnostischen Verfahren untersuchten. Im Ergebnis: Die Rate der Fehldiagnosen über den beobachteten Zeitraum blieb bei nahezu zehn Prozent konstant.

Bei weiteren zwölf Prozent der untersuchten Patienten lagen klinisch nicht gestellte Diagnosen vor, deren Erkennung jedoch keine therapeutischen Konsequenzen gehabt hätte. Die Wissenschaftler sind der Ansicht, dass eine Überbewertung von sono-, szinti- und computertomografischen Befunden in circa drei Prozent der Autopsien zur Entstehung einer Fehldiagnose beigetragen hatte, und dass darüber hinaus die genannten damals neueren diagnostischen Verfahren weder die Rate von Fehldiagnosen zu senken imstande waren, noch den Wert der Obduktion als vitale Komponente für eine suffiziente medizinische Versorgung gemindert hatten – siehe Abbildung 9 [70]. Als „Fehldiagnose“ wird ein falsch interpretiertes Untersuchungsergebnis definiert, das inkorrekte therapeutische Maßnahmen einleitet und dadurch die Prognose des betroffenen Patienten ungünstig beeinflusst [73].

Seit vielen Jahren liegt die Sektionsrate in Deutschland deutlich unter dem Niveau anderer europäischer Staaten [71]; sodass sicherlich ein Großteil von Fehldiagnosen nicht detektiert wird. Zur geschichtlichen Entwicklung der ärztlichen Leichenschaubestimmungen in Deutschland schrieb der Facharzt für Allgemeinmedizin, Franz-Anselm Graf von Ingelheim, genannt Echter von und zu Mespelbrun: „Auch als Leichenschauer soll der Arzt noch Helfer seiner Mitmenschen sein, denn auch bei der Leichenschau sind die Regeln ärztlicher Kunst und ärztlicher Ethik in gleichem Maße zu beachten wie bei der Behandlung lebender Patienten. Es besteht die gleiche Verpflichtung, die Interessen der Toten zu wahren, wie die des Lebenden. Hierzu gehört die Notwendigkeit, den eingetretenen Tod sicher festzustellen sowie Todesart und Todesursache aufzuklären“ [72]. Jährlich landen 4.000 Tonnen Arzneimittel ungebraucht auf dem Müll; jede dritte der 120 Millionen Röntgenaufnahmen im Jahr ist überflüssig; 200.000 falsche Tumorbefunde und circa 100.000 unnötige operative Eingriffe bei Brustkrebspatientinnen* sind zu beklagen; 4,1 Milliarden Euro Einsparvolumen bei Arzneimittelausgaben wären allein durch ein anderes Verordnungsverhalten der Ärzte möglich. Darauf verwies das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung in ihrem Ratgeber zur gesetzlichen Krankenversicherung in Berlin schon im Jahre 2005.

 

Heilung durch Medizinfortschritt

Die Heilung des Kranken bleibt das höchste Ziel der Ärzte: „salus aegroti summa lex“. Dass auf dem Wege zu diesem Ziel dem Kranken nicht geschadet werden darf, ist das erste Gebot, das der Arzt zu beachten hat: „Primum nil nocere“. Für den Arzt, dessen Beruf das höchste Maß an wissenschaftlicher Sorgfalt, an unbestechlicher Gewissenhaftigkeit und sittlicher Verantwortung fordert, erwächst daraus die Verpflichtung, alle Methoden der Wissenschaft in den Bereich der Medizin einzubeziehen, die dazu beitragen können, das Schicksal kranker Menschen zu verbessern, forderte Prof. Dr. med. Hans Schäfer vor 57 Jahren in seinem Buch „Erfolge und Grenzen der modernen Medizin“ [3]. Diese Maximen haben weiterhin Gültigkeit. Seit Beginn der Hightechmedizin steht sie auch im Kreuzfeuer der Kritik:

  • Ihre Bedeutung für die Gesundheit, Lebensqualität und Lebenserwartung wird infrage gestellt,

  • der Sinn des medizintechnischen Fortschritts in Diagnostik und Therapie wird in Zweifel gezogen,

  • Aufwand und Kosten der Medizin werden als unangemessen dargestellt.

Bei aller Beanstandung ist die Beherrschung der notwendigen Krankheitsursache nach wie vor das erklärte Ziel der naturwissenschaftlich orientierten modernen Medizin. Die Bürger der heutigen westlichen Gesellschaften profitieren, wie keine zuvor, dass sie erst nach einer relativ langen Lebenszeit eines natürlichen Todes sterben. Der gewaltsame frühzeitige Tod – häufig durch Infektionskrankheiten, dem unsere Ahnen ausgeliefert waren – wurde zurückgedrängt. Ein Mensch in der vormodernen Gesellschaft hatte in der Regel mit 35 Jahren mehrere kontagiöse Infektionen überlebt und eine Reihe von Geschwistern, Freunden oder Altersgenossen sterben sehen.

Infektionskrankheiten – wobei hier nicht die kontagiösen gemeint sind – betreffen in der heutigen Zeit immer mehr den älteren und multimorbiden Patienten. Die zunehmende Anwendung von Immunsuppressiva, zum Beispiel bei chronisch entzündlichen Erkrankungen wie Colitis ulcerosa, Psoriasis-Arthritis, rheumatoide Arthritis und andere mehr sowie bei Organtransplantierten, begünstigen dabei die Infektionsdisposition. Rund zehn Prozent aller stationären Krankenhauseinweisungen hierzulande haben gegenwärtig eine Infektionsdiagnose; ältere Menschen sind hiervon überproportional betroffen. Der demografische Wandel führt weltweit zu einem Anstieg von Infektionen bei älteren, alten und hochbetagten Menschen, wofür auch die Immunseneszenz, also die Alterung des Immunsystems, verantwortlich ist. Die häufigsten Infektionen, die in deutschen Kliniken behandelt werden, sind: Pneumonien, Harnwegs- und Hautinfektionen, HIV-Infektion und ihre Begleiterkrankungen (opportunistische Infektionen); Letztere gehäuft bei Patienten in einem Alter von 15–64 Jahren. Die Krankenhausmortalität bei den Infektionsdiagnosen betrug, in einer Auswertung in neun kommunalen Krankenhäusern in Berlin zwischen 2009 und 2014, 6,8 Prozent. Die Zunahme von Antibiotika-resistenten Bakterien und der internationale Reiseverkehr bereiten aktuell therapeutische Probleme in der Behandlung dieser Patienten. In Deutschland gibt es gegenwärtig auch zu wenige Infektionsspezialisten in den Kliniken der Akutversorgung für eine Bevölkerung von über 83 Millionen Menschen, darauf weisen die Untersucher explizit in ihrer Studie hin. Eine beträchtliche Anzahl von Patienten mit besonders komplexen und schweren Infektionen würde von Infektionsspezialisten in der Infektionsdiagnostik und Therapie besonders profitieren [74]. Global werden bei den Infektionsdiagnosen mit zunehmender Häufigkeit resistente Erreger nachgewiesen, die medikamentös kaum noch zu therapieren sind: Methicillin-resistente Staphylococcus aureus (MRSA), Erreger mit dem Resistenzgen NDM-1 (Neu-Delhi Metallo-Beta-Lactamase), Tuberkuloseerreger oder unkontrollierbare Enterokokken. Im Jahre 1998 stufte die Weltgesundheitsorganisation daher den Kampf gegen resistente Bakterien erstmals als eine ihrer Prioritäten ein [66, 67].

Konflikte des Medizinfortschrittes

Prof. Dr. phil. Hans Jonas (1903–1993), ein deutsch-amerikanischer Philosoph, schrieb in seinem Buch „Das Prinzip Verantwortung – Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation“: „Die natürlichen Ressourcen schwinden, und eine gnadenlos oder reflexionslos übersteigerte Technik erlöst uns nicht von Leid und Tod. Wir sind keine Götter. Unsere Techniken und Produkte gaukeln Allmachtsphantasien vor. Letztlich lösen sie keine menschlichen Rätsel, sondern sie schaffen im Glanz ihrer Verheißungen neue Probleme. Wer den schuldigen Respekt vor dem Patienten vermissen lässt, wer ihn manipulieren, ihn ummodeln, ja ihn gentechnologisch umkonstruieren will, der ist gemeint“ [78]. Der Aufwand für immer kostspieligere neue medizinische Innovationen steht in einem krassen Missverhältnis zu den damit erzielten Erfolgen: Sterben und Umgang mit den Toten werden durch die Medizin medikalisiert, verrechtlicht und bürokratisiert. Das sind die häufigen Argumente von Medizinkritikern; umso deutlicher, spürbarer, je erfolgreicher die Medizin auf dem Weg ihrer technischen Erfolge fortschreitet. Unsere Gesundheit ist die Grundlage unserer Existenz und wichtiger als alles andere; auch wenn schwerwiegende Krankheiten, im Sinne von Paracelsus, dem Tode voraus spazieren. Über die letzten Jahrzehnte hat sich die altersstandardisierte Sterberate und auch die Überlebenswahrscheinlichkeit bei nahezu allen Erkrankungen signifikant reduziert: Das heißt, für den Menschen von heute mit chronischen Leiden hat der Medizinfortschritt eine Lebensspanne ermöglicht, die bis ins hohe Alter hineinreichen kann; ihr Leben wird ihnen verbessert, wodurch eine Lebensqualität ermöglicht wird, die sie den Gesunden weitgehend gleichstellt [11, 75]. Der Gerontologe, Prof. Dr. med. Andreas Kruse (* 26. August 1955 in Aachen), Direktor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg, verweist explizit in seiner Monografie „Das letzte Lebensjahr“ darauf hin: „Im Durchschnitt weisen die heute 70-Jährigen einen Gesundheitszustand auf, der jenem der 65-Jährigen von vor drei Jahrzehnten entspricht. Dies heißt, dass in den vergangenen drei Jahrzehnten fünf ‚gesunde‘ Altersjahre hinzugekommen sind. Und doch muss damit gerechnet werden, dass der Anstieg in der Lebenserwartung mit dem erhöhten Risiko einhergeht, an einer chronischen Erkrankung zu leiden oder auf Hilfe durch andere Menschen angewiesen zu sein“ [11, 75, 81].


Die Aufgabe im Prozess der Sterbebegleitung ist darin zu sehen, durch medizinische, pflegerische, psychologische, soziale und – sofern dies dem Wunsch des Sterbenden entspricht – seelsorgerische Maßnahmen dazu beizutragen, dass der todkranke Mensch ein Leben führen kann, welches der Würde des Menschen entspricht [81].


Infolge des Medizinfortschrittes hat eine rückläufige Sterblichkeit stattgefunden, die jedoch mit zunehmender Multimorbidität und gesundheitlicher Beeinträchtigung einhergeht. Der gemeinsame soziale Fortschritt und die gestiegene Aufmerksamkeit – besonders der älteren Bevölkerung – gegenüber gesundheitlichen Belangen führten ebenso dazu, dass schwere beziehungsweise lebensbedrohliche Krankheiten zunehmend auf die letzten Lebensjahre, kurz vor Todeseintritt, beschränkt bleiben [75, 81]. Oft müssen dann Lebensquantität und Lebensqualität gegeneinander abgewogen werden, besonders in der Onkologie, Intensivmedizin oder bei Hochbetagten,

  • wenn die Behandlung in dem Sinne „aussichtslos“ ist, dass sie weder das Befinden des Patienten verbessert noch sein Leben bei hinreichender Lebensqualität verlängert;

  • wenn die Behandlung dem Patienten absehbar mehr schadet als nutzt beziehungsweise die Risiken für sein Leben und Befinden die Chancen auf Lebensverlängerung und Verbesserung seines Befindens überwiegen;

  • wenn der Patient die Behandlung ablehnt beziehungsweise – im Fall der Urteils- oder Äußerungsunfähigkeit – vorgreifend abgelehnt hat;

  • wenn die Behandlung in einer Situation der Knappheit (an Geräten, Medikamenten, Arbeit, Zeit, Personal) Ressourcen verzehrt, die ein anderer Patient dringender braucht [23, 35, 44, 45].

Hightechmedizin zwischen Ethik und Ökonomie

Neben der medizinischen und der anzuschließenden ethischen Entscheidung des Arztes ist auch die ganz verschiedene Einstellung der Kranken zu ermitteln; ihm sollen möglichst Alternativen aufgezeigt werden [24, 68]. Aufklärung muss Realität, darf aber nicht Ausweglosigkeit vermitteln; sie muss nach vorne offenbleiben. Nach Horn fällt es dem behandelnden Arzt offensichtlich leicht, formelhaft festzustellen, dass nicht alles, was möglich und machbar ist, sogleich auch sinnvoll sein muss. Dies aber in der konkreten Situation konsequent umzusetzen und sich allein an den Erfordernissen und dem Sinn des jeweiligen Einzelfalls zu orientieren, fällt ungleich schwerer. Um der Individualität des Patienten gerecht werden zu können, bedarf es der jeweils eigenen Entscheidung. Voraussetzungen für solche Entscheidungen, die den einzelnen Menschen in seiner Individualität und Existenzialität treffen, sind Mut und Wagnis, Demut und Geduld, Besonnenheit und Fachlichkeit [68]. Jedem wird zugestimmt, der verlangt, dass allen Menschen alle Fortschritte der Medizin zugutekommen. Erst wenn zu entscheiden ist, wer das bezahlen soll, beginnt die Uneinigkeit. Die jüngere Generation wird zeigen, ob sie für die Wiedererlangung der Gesundheit oder Linderung bereit ist, steigende Leistungsbeiträge an die gesetzlichen Krankenkassen zu zahlen und somit zu einer gerechten und solidarischen Medizin nach aktuellen Wissensstand beiträgt oder ein minimales Angebot an Medizingrundleistungen verlangt. Eine Krankenversicherung, die nur die Basisversorgung abdeckt und spezielle Erkrankungen nur bei einer Zusatzversicherung absichert, lehnen 75–82 Prozent der befragten Versicherten gegenwärtig jedoch ab [56]. Es muss in diesem Kontext eindringlich darauf hingewiesen werden, dass der medizinische Fortschritt ständig im Fluss ist, abhängig von der allgemeinen wirtschaftlichen Lage einerseits und der medizinischen Kostenintensität andererseits. Häufig wird ein sogenannter „Fortschrittsdruck“ direkt auf die Medizin ausgeübt. Als Beispiel seien Ribonukleinsäure-Therapien (RNA), die die Behandlung von Krebs, Herzkrankheiten und Infektionen futuristisch revolutionieren, genannt. Von der Bevölkerung muss eine Voraussetzung geschaffen werden, die mehr Sach- und Fachkenntnisse über Gesundheit und Krankheit abverlangt (siehe Kasten und Abbildung 10); denn Krankheit und Sterben sind heute weitgehend von der Gesellschaft gescheute Themen. Daher fehlen oft Interesse und Verständnis. Mit zunehmendem Alter nimmt nicht nur die Verweildauer in Krankenhäusern zu, sondern auch die Behandlungsintensität wächst: Bei fast der Hälfte der über 65-jährigen Patienten wird sogar eine Behandlung auf der Intensivstation erforderlich. Das Krankenhaus figuriert den Ort, an dem sich der Charakter von Behinderung und Gesundheitseinbußen als irreversibel herausstellen kann und von wo es für viele ältere Menschen keine Rückkehr mehr gibt; das allmähliche Auflösen der Existenz als soziales Individuum – ein Prozess, der bereits im Krankenhaus einsetzt und durch die Einstufung als Pflegefall durch eine Pflegeheimeinweisung forciert wird. Ferner fungiert das Krankenhaus dabei als Distributionsfunktion.** Der von vielen gewünschte schnelle und schmerzlose Tod ist die Ausnahme und das langsame, durch schwere Krankheit eingeleitete Sterben die Regel. Auch finden die meisten Menschen nicht, wie gewünscht, in vertrauter Umgebung und im Kreise von Familie und Freunden ihr Lebensende, sondern in der eher anonymen, als kalt und unpersönlich empfundenen Atmosphäre eines Krankenhauses mit ihrer Apparatemedizin oder einer Pflegeeinrichtung [65]. Neben apparativen medizinischen Maßnahmen sind menschliche Eigenschaften von essenzieller Bedeutung, die durch nichts zu ersetzen sind. Gemeint sind Zuwendung, Verstehen, Verantworten, Führen und Begleiten. Eigenschaften, die sich nicht mit den üblichen Kategorien von Leistung messen lassen [68]. Nicht die Apparate sind unmenschlich, sondern eine Medizin, die sich auf Medizintechnik zurückzieht, Maschinen vorschiebt und dem menschlichen Handeln ausweicht. Es liegt in erster Linie am Krankenhauspersonal, Menschlichkeit im Krankenhaus zu leben [66, 82].

Mangel an Fachberufen in Gesundheitseinrichtungen und ihre Folgen für den Medizinfortschritt

Die gesundheitliche Versorgung der Menschen gerät unter Druck: Zum einen steigt der Bedarf an medizinischer und pflegerischer Versorgung und zum anderen steht diesem Bedarf ein sinkendes Angebot an Arbeitskräften gegenüber. Dadurch droht in den nächsten Jahrzehnten eine noch größere Lücke, wenn nicht rasch gegengesteuert wird, denn die Nachfrage nach Medizinern, MT, Pflegefachkräften und medizinischen Fachangestellten übersteigt heute schon das Angebot auf dem Arbeitsmarkt.

 

Krankheitsfolgen vermeiden

Daher kann sich unsere Gesellschaft einen weiteren ungebremsten Anstieg, kostenintensiver chronischer Erkrankungen, von denen sich ein hoher Prozentsatz durch Prävention verhindern oder auf einen späteren Zeitpunkt verschieben ließe, nicht leisten. Michael Balint (1896–1970), ein ungarisch-britischer Psychoanalytiker, sagte seinerzeit: „Hat nicht der Arzt auch die Aufgabe, Krankheiten zu verhüten? Vielleicht sollten wir unsere apostolische Mission umstellen und unsere Patienten lieber darauf trainieren, uns mit ihren Konflikten zu konsultieren, bevor die Krankheit ausbricht; die Prognose dürfte in einer so frühen Phase sehr viel günstiger sein. Ferner würde sich unser Wissen gewaltig erweitern, wenn wir herausfinden könnten, welche Menschen mit ihren Problemen fertig werden, ohne sie in Krankheiten verwandeln zu müssen, und welche sich auf die Krankheit zurückziehen“ [77]. Die Medizin ist umso mehr aufgefordert, die Prophylaxe auszubauen und zu einem wirksamen Instrument zur Erhaltung menschlicher Gesundheit zu machen. In einer sehr allgemeinen Definition bedeutet Prophylaxe (oder Prävention) die gezielte Erhaltung oder Wiederherstellung von Lebensbedingungen, die Leben und Gesundheit ermöglichen [25]. Prävention hat im deutschen Gesundheitswesen nicht annähernd den Stellenwert, den sie haben müsste. Dies erfordert eine Umorientierung des Gesundheitswesens, der Ärzte und der Versicherten im Sinne eines gesellschaftlichen Langzeitprojekts, in das alle gesellschaftlichen Bereiche mit eingebunden werden müssen [56]. Prof. Dr. med. Klaus-Dieter Kossow, Arzt für Allgemeinmedizin, Facharzt für psychotherapeutische Medizin, ehemaliger Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen und Vorsitzender des Berufsverbandes der Allgemeinärzte Deutschlands BDA-Hausärzteverband e. V., sieht als Grund den Mangel an fundierter Epidemiologie: Krankheiten und ihre Behandlung müssen quantitativ analysiert werden, damit darauf eine optimale Gesundheitspolitik aufgebaut werden kann. Ein Gesundheitssystem ohne systematische und epidemiologisch fundierte Verhaltens- und Verhältnisprävention wird nur suboptimale Ergebnisse zeigen. In deutschen Schulen gibt es zu wenig Gesundheitsunterricht, und das Gesundheitswesen ist nicht präventionsbezogen organisiert, sondern auf die klinische Behandlung von Endpunkterkrankungen ausgerichtet. Die gegenwärtige Medizin widmet sich vorrangig der Betreuung chronisch kranker, multimorbider Menschen, für die sie eine Linderung ihrer Beschwerden im Sinne einer Symptomkontrolle erreichen möchte.

Fort- und Weiterbildung in Gesundheitsberufen essenziell

Ärzte und Gesundheitsfachberufe werden bisweilen schlecht für die Schulung der Patienten und gut für die Anwendung von Medizintechnik honoriert. In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass bereits vor über 50 Jahren Prof. Dr. med. Bodo Manstein (1911–1977), Chefarzt für Gynäkologie und Geburtshilfe und Ärztlicher Direktor eines Kreiskrankenhauses in Ostwestfalen-Lippe, monierte: „Da die Routinearbeit im Krankenhausalltag alle Kräfte beansprucht, kommt das Literaturstudium und wissenschaftliches Forschen in den Kliniken zu kurz. Die Krankenhausträger sind häufig der Ansicht, dass die Wissenschaft der Universität vorbehalten sei und sehen es nicht gerne, wenn sich in dieser Hinsicht eine gewisse Aktivität entwickelt“ [59]. Die Tätigkeit am kranken Menschen setzt aber ein hohes Maß an Fachlichkeit und Verantwortung voraus. Fachlichkeit aber muss erworben und ständig erneuert, reflektiert und intensiviert werden. Neben der eigentlichen Tätigkeit am kranken Individuum bedarf es dazu des Willens, Zeit und Mühe in den Prozess der Wissensakquirierung zu investieren. Dies erfolgt meist außerhalb der sogenannten Arbeitszeit und wird nicht vergütet. Diese Zusammenhänge verweisen auf das Attribut der Selbstdisziplin und des intellektuellen Engagements, die als Voraussetzungen für jede Übernahme von Verantwortung – besonders im Gesundheitssektor – gelten müssen [68].

Fazit

Der Medizinethiker Prof. Dr. med. Daniel Callahan schrieb in einem seiner zahlreichen Bücher: „Die Ausrottung von Krankheit ist ein verfehltes Ziel, eine Fortschrittsfalle: Krankheit und Tod können niemals besiegt werden. Die gegenwärtige Medizin sollte demzufolge einen Weg finden, sich dauerhaft mit den ‚Übeln‘ zu arrangieren. Ihre primäre Aufgabe ist dabei die Erleichterung des Lebens unter den Bedingungen von Krankheit und Tod“ [57]. Älter werden wir, aber nicht unbedingt im Alter gesund sein: Alter, Klinik und Intensivstationen sind eng miteinander verknüpft. Dem Medizinfortschritt ist eine rückläufige Sterblichkeit bei zunehmender Multimorbidität zuzuschreiben. Von einer seelenlosen, inhumanen Funktionsmedizin sollte nicht gesprochen werden. Der epochale Medizinfortschritt ist gerade in der Diagnostik, von denen man vor wenigen Jahrzehnten nur träumen konnte – zum Beispiel die Glasfiberendoskopie, Computertomografie, Magnetresonanztomografie oder die Sonografie in ihren verschiedenen Anwendungen – und die bei wesentlich gesteigerter Leistungsfähigkeit den Patienten weniger belastet als das früher der Fall war, zu sehen. Medikotechnische Apparate beziehungsweise Technik spielen besonders in der Therapie eine bedeutsame Rolle. Sie sind vor allem in der Intensivmedizin (Überwachungsgeräte, Beatmungsmaschinen, Dialyse, Herzschrittmacher und so weiter) zur Überwindung kritischer Grenzsituationen und zur Erhaltung des Lebens von entscheidender Bedeutung. Auch die sogenannten „Plastiksonden“ – aus Silikon oder Polyurethan bestehend (Venenverweilkanülen und viele andere mehr) – haben ebenfalls einen erheblichen Einfluss auf die Mortalität gehabt, im Vergleich zu den teuren und zumeist als Paradigma der modernen medizinischen Technik bewunderten Maschinen; dies wird häufig vergessen. Wer zurück in das Leben unserer Ahnen zur einfachen Medizin möchte, muss vermehrte Fehldiagnosen, unnötige Todesfälle und überflüssige dauernde körperliche Behinderungen in Kauf nehmen. Fakt ist, dass die Medizin kein Mittel gegen den Tod hat, aber viele Verfahren für die Herauszögerung des Sterbens. Dürfen medizintechnische Verfahren mit dem Fachwissen darüber entscheiden, wer lebt und wer stirbt? Diese Frage wird sich zukünftig immer mehr bei ihrer Anwendung stellen. Jeder Mensch, unabhängig von seiner Herkunft, seinem Alter oder dem Geschlecht, muss den gleichen Zugang zu lebensrettenden Maßnahmen erhalten. Auf Gerechtigkeit hat jedes Individuum Anspruch. Medizinfortschritt muss in erster Linie Autonomie, Wohltätigkeit und Gerechtigkeit leisten. Wie mit Krankheit und Kranken umgegangen wird, gibt Auskunft über eine Gesellschaft und ihre Zeit, über Weltanschauungen und Werte – ihr Menschenbild. Krankheit ist nicht nur eine biologische Veränderung, ein persönliches Drama, sondern hat auch eine soziale, gesellschaftliche und historische Bedeutung, dessen sollten wir uns stets bewusst sein.

Ausblick

Gemeinsam arbeiten an der:
• Förderung der Gesundheit
• Verhütung von Krankheiten
• Linderung von nicht vermeidbaren Krankheiten und Behinderungen
• Verbesserung der Prozesse von Geburt, Kindheit und Jugend

Gemeinsam dafür sorgen, dass alle gesund sind, um
• produktiv arbeiten zu können und
• sich aktiv in das soziale Netz der Umwelt einbinden zu lassen.

Gemeinsam erleichtern
• ein würdevolles Altern
• ein würdevolles Sterben

* Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) wies jüngst darauf hin, dass heute teilweise bereits vor der Operation ein großzügiger Einsatz systemischer Therapien empfohlen wird. Etwa drei von vier Brustkrebspatientinnen in Deutschland werden brusterhaltend operiert. Ziel ist es stets, den Tumor vollständig zu entfernen und dabei gleichzeitig die Brust so weit zu erhalten, dass sie möglichst natürlich aussieht (Anm. d. Verf.).

** Die Bezeichnung „Distributionsfunktion“ umschreibt die verschiedenen Vorgänge der „Filterung“, Weiterverlegung, Verweildauerprolongierung, Entlassung und wiederholte Wiederaufnahme, Heimunterbringung et cetera; Prozeduren, die im Falle sehr alter Patienten oftmals den Charakter eines Versorgungskarussells annehmen.

Das Literaturverzeichnis finden Sie hier.

 

Entnommen aus MT im Dialog 12/2023

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