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Nicht genesen: ME/CFS – 
zwischen Wissenschaft und 
Versorgungslücken (Teil 1)

Schwerpunktthema Systemische Erkrankungen
Karina Sturm
Das Foto zeigt den Begriff ME/CFS, gelegt aus Scrabble-Steinen, auf gelbem Hintergrund
© photoopus/stock.adobe.com
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ME steht für Myalgische Enzephalomyelitis, CFS für Chronic Fatigue Syndrome (oder zu Deutsch: Chronisches Erschöpfungssyndrom). Anhand letzterer Bezeichnung gehen viele Menschen davon aus, dass Betroffene „nur“ müde seien, was fern jeder Realität ist. ME/CFS geht weit über bloße Müdigkeit hinaus. Tatsächlich ist ME/CFS eine der schwersten und am meisten vernachlässigten Erkrankungen, die wir heute kennen.

Zusammenfassung

Viele Menschen sehen die COVID-19-Pandemie bereits als vergangen an. Doch für jede 20. Person wird sie das nie sein [1]. Sie leben langfristig mit den Folgen einer Infektion in Form von ME/CFS. ME/CFS ist die größte ignorierte Gesundheitskrise, die bereits vor der Pandemie weltweit 17 Millionen Menschen betraf [2]. Heute dürfte die Zahl mindestens doppelt so hoch liegen [3]. Mit der steigenden Zahl an Long-COVID-Betroffenen rückt ME/CFS nun verstärkt in den Fokus. Doch wird ME/CFS dadurch endlich ernst genommen? Im ersten Teil dieser Serie spricht Autorin Karina Sturm mit einer Mutter zweier betroffener Kinder, mehreren Expertinnen und Experten für ME/CFS, einem Vertreter der ­Deutschen Gesellschaft für ME/CFS sowie mit der Aktionsplattform „Millions Missing“ über Symptome und Diagnostik, die Lebensqualität der Betroffenen und Herausforderungen in der medizinischen Versorgung.

Schlüsselwörter: ME/CFS, COVID-19, Long COVID, Diagnose

Abstract

Many people already see the COVID-19 pandemic as a thing of the past. But for one in 20 people, it never will be [1]. They are living with the long-term consequences of an infection in the form of ME/CFS. ME/CFS is the most ignored health crisis, affecting 17 million people worldwide even before the pandemic [2]. Today, this figure is likely to be at least twice as high [3]. With the rising number of people affected by long COVID, ME/CFS is now increasingly coming into focus. But is ME/CFS as a result finally being taken seriously? In the first part of this series, author Karina Sturm talks to a mother of two affected children, several ME/CFS experts, a representative of the German ME/CFS Society and the “Millions Missing” platform about symptoms and diagnosis, the quality of life of those affected and the challenges they face in accessing medical care.

Keywords: ME/CFS, COVID-19, Long COVID, diagnosis

DOI: 10.53180/MTIMDIALOG.2025.0510

Vielfältige Symptome und Schweregrade

ME steht für Myalgische Enzephalomyelitis, CFS für Chronic Fatigue Syndrome (oder zu Deutsch: Chronisches Erschöpfungssyndrom). Anhand letzterer Bezeichnung gehen viele Menschen davon aus, dass Betroffene „nur“ müde seien, was fern jeder Realität ist. ME/CFS geht weit über bloße Müdigkeit hinaus. Tatsächlich ist ME/CFS eine der schwersten und am meisten vernachlässigten Erkrankungen, die wir heute kennen. 

Selbst bei einem milden Verlauf – in diesem Fall ist das Aktivitäts­niveau der Betroffenen bereits um etwa 50 % im Vergleich zu ge­sunden Menschen reduziert – führt die Erkrankung zu erheblichen Einschränkungen im Alltag [4]. Bei einem moderaten Verlauf sind die Betroffenen oft nicht mehr in der Lage, einer Arbeit nachzugehen und können das Haus nicht verlassen. Sie sind in allen Bereichen ein­geschränkt. Beim schweren Verlauf sind einfache Tätigkeiten wie Duschen oder Zähneputzen kaum noch möglich und bei sehr ­schwerem ME/CFS können die Betroffenen meist ihr Bett nicht mehr verlassen und benötigen umfassende Pflege. Die beiden schwer(st)en Grade sind mit der Lebensqualität von Krebserkrankungen im End­stadium vergleichbar [4].

Eine dieser Schwerstbetroffenen ist die 13-jährige Samira. Sie hat einen Bell-Score von 0, der niedrigste mögliche Wert. Die Bell-Skala hilft Ärztinnen und Ärzten abzuschätzen, wie signifikant die kogni­tiven und körperlichen Einschränkungen durch ME/CFS sind [5]. In Zehnerschritten geht sie bis 100, was einer in ihrer Aktivität gar nicht eingeschränkten gesunden Person gleichkommt. Hingegen bedeutet ein Bell-Score von 50 beispielsweise, dass die Person nicht mehr arbeiten kann, aber Hausarbeit begrenzt möglich ist. Hier ist das Aktivitätsniveau auf 70 % der Norm reduziert [5]. Bei einem Bell-Score von 0 ist die Person vollständig bettlägerig und keine Selbstversorgung mehr möglich. Das trifft auch auf Samira zu. Konkret heißt das für das ­Mädchen, dass sie ihr Zimmer nicht mehr verlassen kann und bei allen körperlichen Aktivitäten die Unterstützung ihrer Eltern benötigt. „An schlechten Tagen ist sie ganz alleine. Sie kann sich dann nur mit letzter Kraft ein kleines bisschen bewegen, jedes gesprochene Wort tut ihr weh und die pure Anwesenheit ihrer Eltern kostet viel Kraft“, sagt Mutter Josefine. Man könne anhand der Rollläden an Samiras Fenstern sehen, wie gut oder schlecht der Tag ist. „Wenn es ihr richtig schlimm geht, dann sind alle Rollläden dicht.“ An guten Tagen ist zumindest einer ein winziges Stück geöffnet und Samira kann 10 Minuten mit ihren Eltern sprechen oder Freundinnen anrufen. Persönlich zum Spielen verabreden, kann sie sich nur selten. Samira verbringt den Großteil ihrer Zeit in absoluter Dunkelheit in ihrem Bett, denn selbst an guten Tagen schmerzt die Sonne auf der Haut. 

Ungefähr drei Viertel der Betroffenen gelten als leicht oder moderat erkrankt. Demnach gibt es 25 % schwer beziehungsweise sehr schwer erkrankte Betroffene. Letztere können kaum validiert werden, da sie aufgrund ihres Gesundheitszustands oft keine medizinische Versorgung mehr aufsuchen können und in völliger Isolation leben. Sie verschwinden aus allen Statistiken und Diskussionen. Samira kann sich im Bett aufsetzen, aber ist zu schwach zu gehen. Auch kognitiv hat sie stark abgebaut. „Sie kann sich nichts mehr merken, nach weniger als fünf Minuten hat sie vergessen, dass ich ihr gesagt habe, dass ich spazieren gehe und fragt nach Hilfe, deshalb muss immer jemand im Haus sein. Sie kann kein Buch mehr lesen; selbst ihr Lieblingsmanga mit mehr Bild als Text führt zum Crash. Wichtige Informationen müssen wir in Minihäppchen aufteilen und gezielt am besten nach 22 Uhr – weil da ihre Aufnahmekapazität am besten ist – über mehrere Tage oder Wochen mit ihr besprechen. Mehr als eine Person zurzeit in einem Gespräch führt ebenfalls zum Crash“, erklärt Mutter Josefine. Was für gesunde Menschen keine merkbare Anstrengung ist, wie zum Beispiel ein Glas Wasser füllen, zum Mund führen und zu schlucken, ist für Menschen wie Samira eine riesige Anstrengung und an manchen Tagen nur unter größter Mühe möglich.

Neben der schweren und dauerhaften Erschöpfung (Fatigue), die auch durch Ausruhen nicht besser wird, leben die Betroffenen mit einer Vielzahl anderer Symptome, die ihre Lebensqualität zusätzlich beeinträchtigen, wie kognitive Dysfunktion und orthostatische In­toleranz. Als zentrales Leitsymptom gilt allerdings die post-exertionelle Malaise (PEM), eine Zustandsverschlechterung nach jeglicher Belastung – oft auch als „Belastungsintoleranz“ bezeichnet – die Tage oder Wochen anhält und in einem Crash enden kann [6]. Ein Crash ist demnach eine plötzliche und schwerwiegende Verschlechterung aller Symptome, zum Beispiel in Form von extremer Fatigue, Verstärkung von Schmerzen, kognitiven Einschränkungen (zum Beispiel „Brain Fog“), Kreislaufproblemen, grippeähnlichen Symptomen oder Licht- und Geräuschempfindlichkeit, die zeitverzögert nach körper­licher, kognitiver oder emotionaler Überlastung einsetzt und Tage, Wochen, aber auch dauerhaft anhalten kann. Für Betroffene bedeutet dies, dass schon geringste Anstrengungen, wie das Gehen oder das Sprechen, zu einem Zusammenbruch führen können. Fatigue ist auch nicht gleich Fatigue. „Im Vergleich zu Patientinnen und Patienten mit anderen durch Fatigue charakterisierten Krankheitsbildern hält die Fatigue bei ME/CFS-Patientinnen und -Patienten länger an und sie weist einen höheren Schweregrad auf“, schreibt das Bundesministerium für Gesundheit in seinem Abschlussbericht zum aktuellen Kenntnisstand [3]. Häufig erleben Betroffene solche Crashes durch Überlastung, beispielsweise durch falsche (aktivierende) Therapien, die meist durch die fehlende Expertise des medizinischen Personals ausgelöst werden. „Bei einem unserer Krankenhausaufenthalte crashte Samira nach einer physiotherapeutischen Behandlung. Sie konnte für 11 Monate ihre Beine nicht mehr bewegen, weil sich ­niemand dort mit den ME/CFS-spezifischen Informationen befassen wollte“, erinnert sich Josefine.

Ursachen, Klassifikation und Diagnose

Trotz des hohen Leidensdrucks und der Tatsache, dass sich die Betroffenenzahlen mit der Pandemie mindestens verdoppelt haben – in Deutschland gab es vor der Pandemie schon 140.000–310.000 ME/CFS-Betroffene [3] – ist der genaue Pathomechanismus hinter ME/CFS bis heute nicht abschließend geklärt. ME/CFS betrifft das Nerven- und Immunsystem und ist von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als neurologische Erkrankung klassifiziert. Im ICD-10 läuft ME/CFS unter dem Code G93.3 „postvirales Fatigue-Syndrom“, was oft kritisiert wird, weil nicht bei allen Betroffenen eine Virus­infektion der Auslöser war, jedoch bei vielen. Viren wie das Epstein-Barr-Virus (EBV), das bei Ausbruch zum Pfeifferschen Drüsenfieber führt, oder Influenza können zu ME/CFS führen [8]. Heute weiß man auch, dass ein Teil der COVID-19-Infizierten später ME/CFS ent­wickelt [9]. Durch die schiere Anzahl an Infektionen seit Beginn der Pandemie stieg natürlich auch die Zahl der Menschen exponentiell mit an, die nicht genesen sind, sondern stattdessen das Vollbild der ME/CFS entwickelt haben. „Die ersten Symptome traten bei Samira hauptsächlich kognitiv auf. Sie hatte gerade eine COVID-19-Infektion hinter sich und befand sich im Übergang zum Gymnasium. Ihre Noten brachen ein, und im Fach Deutsch, in dem sie zuvor immer sehr gut war, begann sie plötzlich, Wörter falsch zu schreiben, die sie früher perfekt beherrschte“, erzählt Josefine. In den Monaten, die darauf folgten, verschlechterte sich Samiras Zustand weiter. Sie konnte nicht mehr zur Schule gehen und schließlich nicht einmal mehr ihr Zimmer verlassen. Mittlerweile versteht Samira kein Deutsch mehr.

Zudem gibt es mittlerweile die starke Vermutung, dass auch mechanische Faktoren, wie die Kompression des Hirnstamms durch Erkrankungen wie die kraniozervikale beziehungsweise atlantoaxiale Instabilität, eine Instabilität zwischen dem Kopf und den ersten beiden Halswirbeln, zu einer Form von ME/CFS führen [10]. Expertinnen und Experten gehen aber davon aus, dass je nach Auslöser auch der Pathomechanismus von ME/CFS unterschiedlich ist, sich aber klinisch in ähnlichen Symptomen ausdrückt. 

Kriterium CCC (Charité)  IOM/NAMICC
PEM xxx
PENE (postextertional neuroimmune exhaustion)
Fatigue x
Neu aufgetreten; nicht anders erklärbar; körperliche und mentale Erschöpfung und Aktivitätslevel reduziert 
xx
Neurologisch/Kognitive Beeinträchtigungx
z. B. Konzentrations-, Wortfindungsstörung, gestörte Bewegungskoordination
xx
werden weiter unterteilt in neurokognitiv, neurosensorisch und motorisch z. B. Muskelschwäche
Schmerz   x
z. B. Gelenk-, Muskel- und Kopfschmerzen
-x
Schlafstörungx
z. B. nicht erholsamer Schlaf, Ein- und Durchschlafstörung
xx
Immunologische Symptomex
z. B. Halsschmerzen, grippiges Gefühl
-x
werden weiter unterteilt in immunologisch, gastrointestinal und urogenital
Neuroendokrin/ Stoffwechselsymptomex
  z. B. Schwitzen, fiebriges Gefühl 
-x
Autonome Symptome x
z. B. PoTS, Schwindel, Blasenstörung, Atemnot 
xx
Differenzialdiagnosen ausschließen x
z. B. Endometriose, Tumorfatigue u. v. m. 
-x

Tab. 1: Vergleich aller Kriterien [13, 14, 15]

Zudem tritt ME/CFS häufig gemeinsam mit anderen Erkrankungen auf, wie zum Beispiel dem hypermobilen Ehlers-Danlos-Syndrom (hEDS), Fibromyalgie, Hashimoto [11] oder Mastzellaktivierungssyndrom (MCAS) [12], was Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit vor die Frage stellt, ob dies Komorbiditäten sind oder allen ein ähnlicher Mechanismus zugrunde liegt (mehr zur Forschung rund um den Pathomechanismus und Diagnostik gibt es in einem weiteren Teil dieser Serie). 

Aufgrund der Vielzahl potenzieller Krankheitsmechanismen gibt es auch nicht den einen Test für ME/CFS. Derzeit basiert die Diagnostik hauptsächlich auf der klinischen Beurteilung der Symptome. Für die Diagnostik kommen verschiedene Kriterien zum Einsatz. Beispielsweise gibt es die kanadischen Konsenskriterien (CCC), die einen Fokus auf die neuroimmunologischen und autonomen Symptome legen und die PEM als zentrales Kriterium etabliert. Außerdem werden kognitive Beeinträchtigungen als auch Schlafstörungen einbezogen [13].

Das Charité Fatigue Centrum, eine der wenigen Anlaufstellen für Betroffene in Deutschland, nutzt eine angepasste Version der kanadischen Konsenskriterien. Für eine ME/CFS-Diagnose müssen alle Symptome des CCC-Fragebogens zutreffen und für mindestens ein halbes Jahr vorliegen, um ME/CFS von postviraler Fatigue abzugrenzen. Die CCC sind strenger und detaillierter als alle anderen Kriterien [16]. 

Die Kriterien des Institute of Medicine (IOM)/National Academy of Medicine (NAM) hingegen sind einfacher gehalten und berücksich­tigen weniger Symptomkomplexe als die CCC und ICC. Sie führen außerdem eine neue Krankheitsbezeichnung ein: SEID (systemic exertion intolerance disease), die jedoch bislang kaum jemand nutzt [16]. 

Um laut den Internationalen Konsensuskriterien (ICC) eine Dia­gnose zu erhalten, müssen die Symptome nicht seit 6 Monaten vorliegen. Ansonsten deckt dieser sich mit den CCC im Hinblick auf die abgedeckten Symptome, teilt aber vorliegende Kategorien noch weiter auf. Es müssen dabei nicht alle Symptome erfüllt sein, sondern eine spezifische Anzahl je nach Sparte [17]. 

Im April 2024 wurde ein interdisziplinäres Konsensus-Statement zur Diagnostik und Behandlung von ME/CFS für den DACH-Raum publiziert, bei dem über 30 Expertinnen und Experten aus den 3 Ländern mitgeholfen haben. Diese geben einen Überblick über mögliche Dia­gnostik und Therapie und etablieren die kanadischen Kriterien zur Diagnosefindung [3].

Auch wenn ein klarer laborchemischer oder bildgebender Marker bisher fehlt, gibt es dennoch Tests, die die verschiedenen Symptome von ME/CFS sichtbar machen können. Für die PEM kann zum Beispiel ein kardiopulmologischer Stresstest (2-Tage-CPET) gemacht werden [18]. Dadurch wird die Sauerstoffaufnahme und somit die Leistungsfähigkeit von Betroffenen an 2 aufeinander folgenden Tagen beurteilt. Im Falle von autonomer Dysfunktion/orthostatischer Intoleranz kann ein Kipptischtest oder alternativ auch in jeder Hausarztpraxis ein Stehtest/Schellongtest erfolgen [19]. Mit diesem kann auch die Form der autonomen Dysfunktion klarer bestimmt werden. Liegen Schlafstörungen vor, ist eventuell eine Polysomnografie sinnvoll. Diese kann Schlafmuster und -phasen analysieren. Um kognitive Beeinträchtigungen zu visualisieren, kommen manchmal auch neuro­psychiatrische Tests zum Einsatz, mithilfe derer man zum Beispiel die Gedächtnisleistung oder Verarbeitung von Informationen beurteilen kann. Zudem gibt es Labortests, zum Beispiel immunologische Marker, wie Zytokine oder NK-Zell-Funktion, als auch metabo­lische Testungen, zum Beispiel Laktat nach Belastung und Cortisol-Tagesprofile. Des Weiteren kann es hilfreich sein, auf bestimmte Infektionen zu testen, falls diese als Auslöser vermutet werden, wie zum Beispiel EBV [19].

Auch kann die PEM genutzt werden, um ME/CFS von anderen Erkrankungen abzugrenzen, die ebenfalls zu Fatigue führen, wie zum Beispiel hEDS, eine häufig komorbide Erkrankung.

In der Praxis läuft die ME/CFS-Diagnostik laut Dr. Michael Stingl, Facharzt für Neurologie und Spezialist für ME/CFS, folgendermaßen ab: „Zu Beginn findet eine einstündige Anamnese statt, und wir gehen die kanadischen Konsenskriterien, den DSQ-PEM, also den PEM-Fragebogen und den COMPASS31 für die Evaluation von Dys­autonomie durch. Dann mache ich einen Schellong-Test und einen diagnostischen Therapieversuch mit Antihistaminika, wenn es Hinweise auf Mastzellaktivierung gibt. Außerdem bestimmen wir diverse Laborparameter, die im Rahmen von ME/CFS auffällig sein können, wie zum Beispiel Werte, die Immundefekte zeigen. Außerdem screene ich auf komorbide Erkrankungen, wie die Ehlers-Danlos-Syndrome und Small-Fiber-Neuropathie. In der Zukunft möchte ich auch die Handkraftmessung noch mehr bei uns etablieren.“ Alles Tests, die theoretisch jeder versorgende Hausarzt und jede Hausärztin durchführen könnte. 

Über ein Jahr lang suchte Samiras Familie nach Ärztinnen oder Ärzten, die die Diagnose ME/CFS stellen können. Sie wurden von Klinik zu Klinik geschickt, was für Samira jedes Mal in einem Crash endete. Trotz des Vorliegens aller Kriterien und zahlreicher objektivier­barer Tests, die auf ME/CFS hindeuteten, stellten die Medizinerinnen und Mediziner keine Diagnose. Ohne feststehende Diagnose hatte Samira auch keine Optionen für Therapien und verlor so mehr und mehr Funktionen. Stattdessen wurde der Familie geraten, die damals 11-Jährige ohne elterliche Unterstützung in eine psychosomatische Klinik einweisen zu lassen. „Ich kann nicht nachvollziehen, wie es zu dieser Situation kommen konnte. Jeder wusste, dass Samira ME/CFS hat, aber trotzdem wurden wir gedrängt, unsere Tochter, die in kürzester Zeit alle körperlichen Fähigkeiten verloren hatte und nicht mehr aus dem Bett konnte, allein in einer Klinik zu lassen – ohne dass uns auch nur gesagt wurde, was dort mit ihr geschieht“, sagt ihre Mutter Josefine.

Fortsetzung und Literatur folgen.

Entnommen aus MT im Dialog 8/2025 (©  Deutscher Ärzteverlag)

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