Nicht genesen: ME/CFS – zwischen Wissenschaft und Versorgungslücken (Teil 2)
Zusammenfassung
Viele Menschen sehen die COVID-19-Pandemie bereits als vergangen an. Doch für jede 20. Person wird sie das nie sein [1]. Sie leben langfristig mit den Folgen einer Infektion in Form von ME/CFS. ME/CFS ist die größte ignorierte Gesundheitskrise, die bereits vor der Pandemie weltweit 17 Millionen Menschen betraf [2]. Heute dürfte die Zahl mindestens doppelt so hoch liegen [3]. Mit der steigenden Zahl an Long-COVID-Betroffenen rückt ME/CFS nun verstärkt in den Fokus. Doch wird ME/CFS dadurch endlich ernst genommen? In Teil 1 und 2 dieser Serie spricht Autorin Karina Sturm mit einer Mutter zweier betroffener Kinder, mehreren Expertinnen und Experten für ME/CFS, einem Vertreter der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS sowie mit der Aktionsplattform „Millions Missing“ über Symptome und Diagnostik, die Lebensqualität der Betroffenen und Herausforderungen in der medizinischen Versorgung.
Schlüsselwörter: ME/CFS, COVID-19, Long COVID, Diagnose
Abstract
Many people already see the COVID-19 pandemic as a thing of the past. But for one in 20 people, it never will be [1]. They are living with the long-term consequences of an infection in the form of ME/CFS. ME/CFS is the most ignored health crisis, affecting 17 million people worldwide even before the pandemic [2]. Today, this figure is likely to be at least twice as high [3]. With the rising number of people affected by long COVID, ME/CFS is now increasingly coming into focus. But is ME/CFS as a result finally being taken seriously? In the first and second part of this series, author Karina Sturm talks to a mother of two affected children, several ME/CFS experts, a representative of the German ME/CFS Society and the “Millions Missing” platform about symptoms and diagnosis, the quality of life of those affected and the challenges they face in accessing medical care.
Keywords: ME/CFS, COVID-19, Long COVID, diagnosis
DOI: 10.53180/MTIMDIALOG.2025.0616
Fehldiagnosen
Mit ME/CFS diagnostiziert zu werden, ist für Betroffene oft mit einer stigmatisierenden und traumatisierenden Odyssee durch das Gesundheitssystem verbunden. Trotz der steigenden Awareness für ME/CFS hält sich hartnäckig das Missverständnis, die Erkrankung sei psychisch bedingt – ein Irrtum, der nach wie vor in medizinischen Kreisen verbreitet ist. „Psychosomatische Krankheitsmodelle suggerieren eine vermeintliche Kontrollierbarkeit der Symptome durch das eigene Verhalten und können damit Betroffene durch Erwartungen von Ärztinnen/Ärzten oder dem sozialen Umfeld unter Druck setzen, die Symptomatik selbst zu verbessern.“ [20] Das ist eine Art von „Victim Blaming“ und kann zu schweren mentalen Belastungen führen. Gleichzeitig erhalten die Betroffenen nicht die Unterstützung – medizinisch aber auch im Bereich Sozialleistungen – die sie benötigen. Dadurch kommt es zur weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustandes. „Die Fehlannahme ME/CFS sei psychisch bedingt, geht unter anderem zurück auf den PACE-Trial. Der wollte mittels wissenschaftlich mangelhafter Methoden nachgewiesen haben, dass ME/CFS eine psychische Erkrankung ist und dass kognitive Verhaltenstherapie sowie Bewegungstherapie, also Aktivierungstherapie, hilfreich sind. Diese Studie ist heute gründlichst widerlegt und man muss ganz klar sagen, wer solche Thesen heute noch verbreitet, der ist nicht auf dem aktuellen Stand der Forschung“, erklärt Jörg Heydecke, Geschäftsführer und Gründer der ME/CFS Research Foundation. „Die Wissenschaft zur ME/CFS ist verhältnismäßig klar. Wir wissen, dass PEM ein physiologischer Prozess ist, den man mittels Zwei-Tage-Ergometrie messen kann. Wenn dann jemand daherkommt und sagt, das sei ja alles psychosomatisch, dann muss ich ganz ehrlich fragen: Haben Sie eine Ahnung von Leistungsphysiologie? Man muss schon voraussetzen können, dass jemand, der so argumentiert, auch in Kenntnis des aktuellen Wissenstands ist …“, fügt Stingl hinzu.
ME/CFS lässt sich außerdem durch die richtige Anamnese von psychischen Erkrankungen abgrenzen. „Man kann anhand weniger Fragen differenzieren. Ich frage: Wie ist der Antrieb? Fehlt die Motivation, was zu machen? Wenn die Antwort „ja“ ist, dann geht es wahrscheinlich eher in Richtung Depression. Die zweite Frage ist: Wenn Sie was tun, wie geht es Ihnen nachher? Wenn die Antwort darauf ist: ‚dreckig’, dann ist die dritte Frage: Und wie lange dauert das dann an? Wird das besser, wenn Sie sich ausruhen? Und wenn die Leute sagen, wenn sie Sport oder etwas Anstrengendes machen, liegen sie 3 Tage flach, dann sollte ich halt an ME/CFS denken. Das ist ein ganz kurzes diagnostisches Gespräch“, so Stingl. Es ist wichtig zu betonen, dass psychische Erkrankungen genauso valide sind wie körperliche und es bei der Abgrenzung von ME/CFS nicht darum geht, psychische Erkrankungen abzuwerten. Korrekte Diagnosen sind jedoch gerade für Menschen mit ME/CFS essenziell, um sie vor körperlichen Schäden durch falsche Therapien zu bewahren.
Ein weiterer Faktor, der die Diagnose beeinflusst, ist die Tatsache, dass ME/CFS häufig Frauen betrifft – über zwei Drittel der Betroffenen sind weiblich [3]. Die Symptome sind diffus und den ganzen Körper betreffend, doch äußerlich sieht man ihnen oft nichts an. Standardtests bleiben ohne Befund. Die teils fehlende Objektivierbarkeit gepaart mit dem Geschlecht führt schnell dazu, dass suggeriert wird, die Betroffenen würden sich alles nur einbilden. „Der Kinderarzt hat uns damals nicht ernst genommen und gesagt, Samira soll einfach wieder in die Schule gehen“, sagt Josefine. „Sie ist dadurch gecrasht – das war vor 2 Jahren – und hat sich bis heute nicht annähernd davon erholt.“
„Das Grundproblem ist das fehlende Wissen zu ME/CFS. ME/CFS wird nicht systematisch gelehrt und so haben viele praktizierende Ärztinnen und Ärzte nie etwas davon gehört. Dann haben sie vielleicht noch im Hinterkopf, ME/CFS sei psychosomatisch. Es gibt keine griffigen Befunde, die Betroffenen sind mühsam, weil sie viel erzählen und so weiter. Und wenn man selbst nie etwas davon gehört hat, dann kann es ja nicht so relevant sein, oder“, erklärt Stingl.
Dieses „nicht glauben“ von Symptomen und das Absprechen der eigenen Körperwahrnehmung wird als „medical gaslighting“ bezeichnet. Gaslighting ist eine Form der emotionalen Manipulation, bei der Betroffene irgendwann ihre eigene Realität infrage stellen und sich selbst nicht mehr trauen. In medizinischen Settings hat sich der Begriff vor allem seit der COVID-19-Pandemie etabliert. Ein Grund dafür, warum es vor allem Frauen mit multisystemischen und oft unsichtbaren Erkrankungen besonders schwer haben, eine Diagnose zu erhalten, ist der in der Medizin tief verankerte „Gender Bias“, die systematische Verzerrung in Wahrnehmung, Bewertung und Behandlung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts. In der Medizin führt dieser Bias dazu, dass Symptome bei Frauen häufiger als psychisch bedingt abgetan, Schmerzen weniger ernst genommen oder Diagnosen verzögert gestellt werden.
Im Schnitt erhalten Betroffene, egal welchen Geschlechts, in der Schweiz beispielsweise 2,6 Fehldiagnosen, bis ME/CFS erkannt wird [3]. Laut Studien erhalten 90 % der ME/CFS-Betroffenen keine (richtige) Diagnose [21]. Bis Betroffene korrekt diagnostiziert werden, vergehen in Deutschland mindestens 7 Jahre! [3]
Fehldiagnosen können fatal für den Krankheitsverlauf sein. Falsche Diagnosen führen zu unpassenden Therapien, wie zum Beispiel der Anwendung der schädlichen „Aktivierungstherapie“, ein Verfahren, das darauf abzielt, Patientinnen und Patienten durch körperliche oder geistige Aktivierung schrittweise wieder belastbarer zu machen. Sie wird häufig in der psychosomatischen Medizin oder bei Depressionen eingesetzt. Bei Betroffenen von ME/CFS kann die sogenannte Graded Exercise Therapy (GET) allerdings zu massiver und oft dauerhafter Verschlechterung führen. Das aktuelle Konsensus-Statement lehnt diese strikt ab [3]. „Bei PEM kommt es durch Überaktivität zu einer messbaren Verschlechterung der Leistungsfähigkeit. Das heißt normale Trainingskonzepte funktionieren nicht. Dazu gibt es Studien; das sind wissenschaftliche Fakten. Aktivität ist natürlich wichtig, aber sie muss bei ME/CFS in dem Rahmen erfolgen, in dem keine Verschlechterung des Zustandes eintritt. Und das bedeutet für manche Leute, dass einfach keine Aktivierung möglich ist“, sagt Stingl.
Eine der schwerwiegendsten Konsequenzen von fehlenden oder Fehldiagnosen ist der Verdacht des Kindesmissbrauchs. Besonders Eltern schwer erkrankter Kinder geraten nicht selten unter Verdacht, vor allem, wenn es noch keine gesicherte Diagnose gibt. „Als Samira weder essen noch trinken konnte und alle therapeutischen Maßnahmen ausgeschöpft waren, haben wir im Krankenhaus auf Fachliteratur hingewiesen, die in solchen Situationen eine PEG-Sonde empfiehlt“, berichtet Josefine. „Kurz darauf wurden wir wegen Kindeswohlgefährdung angezeigt.“ Die Folge: Samira erhielt monatelang keine angemessene Behandlung. Erst nach 1,5 Jahren erhält Samira die Diagnose ME/CFS.
Prekäre Versorgungslage für Betroffene
Doch die Diagnose ist für Betroffene oft nur der erste Etappensieg auf einer langen Strecke voller weiterer Hürden. Denn selbst mit medizinisch gesicherter Diagnose bleibt die Versorgungslage im deutschsprachigen Raum prekär. Diagnostizierte Betroffene sind im DACH-Raum chronisch unterversorgt. Eine geeignete Anlaufstelle zu finden, stellt eine enorme Herausforderung dar. Laut einer Studie von Fröhlich et al. haben Betroffene nicht genug Fachärztinnen beziehungsweise -ärzte in ihrer Region, beziehungsweise müssen lange Strecken zurücklegen, um zu Expertinnen und Experten zu gelangen und können das gleichzeitig finanziell nur schwer leisten, denn 35–69 % sind nicht erwerbstätig [7]. Nur ein Viertel hat Zugang zu Expertinnen und Experten für die Erkrankung [7]. Neben der Charité in Berlin, die hauptsächlich erwachsene Betroffene in der Region versorgt, gibt es derzeit nur eine weitere Klinik in Deutschland, die wiederum nur Patientinnen und Patienten bis 20 Jahre aufnimmt: das MRI Chronische Fatigue Centrum für junge Menschen (MCFC) der Technischen Universität München (TUM) und München Klinik gGmbH. Viel zu wenig für die Tausenden Betroffenen im Land. „2 Ambulanzen sind für die Zahl an Betroffenen ein Tropfen auf den heißen Stein. Zumal sie so überlaufen sind, dass sie nur Erkrankte aus dem nahen Umfeld aufnehmen und oft auch nur eine Diagnose stellen und nicht weiter behandeln. Dafür braucht es Netzwerke an Haus- und Fachärztinnen/-ärzten, aber auch dort sehen wir, dass das Wissen über ME/CFS nicht weit verbreitet ist. Und so haben viele Erkrankte weiterhin keine ärztliche Versorgung. Es gibt wahrscheinlich keine Erkrankung, die einerseits so häufig und andererseits so unterversorgt und untererforscht ist wie ME/CFS“, sagt Torben Elbers, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS.
Auch in Österreich sieht es nicht besser aus. „Wir brauchen Fachabteilungen. In einer idealen Welt ist der niedergelassene Bereich ausreichend kompetent, um milde Fälle von ME/CFS zu managen. Aber für die komplexen Fälle brauchen wir spezialisierte Anlaufstellen, wo auch Leute sitzen, die wirklich hohe klinische Erfahrung haben. Doch leider will halt niemand das Geld dafür in die Hand nehmen“, sagt Stingl. Und das, obwohl die fehlende Versorgung und der daraus entstehende schlechte Gesundheitszustand und die Arbeitsunfähigkeit das Land Österreich laut der Österreichischen Gesellschaft für ME/CFS 2,57 Milliarden Euro pro Jahr kostet [22]. Kürzlich wurde von der ME/CFS Research Foundation in Zusammenarbeit mit Risklayer eine ähnliche Analyse auch für Deutschland veröffentlicht. Diese zeigt, dass Long COVID und ME/CFS zwischen 2020 und 2024 250 Milliarden Euro kosteten! Zuletzt in 2024 beliefen sich die Kosten auf 63,1 Milliarden, was laut Bericht etwa 1,5 % des Bruttoinlandsprodukts entspricht [23].
Generell ist die Erkrankung außerhalb der wenigen Expertinnen und Experten nirgends verstanden und anerkannt. Dadurch entstehen große Lücken in der Versorgung, gerade wenn es um für chronisch kranke Menschen lebensnotwendige Dinge geht wie Grad der Behinderung, Pflegegrad, Sozialleistungen wie Erwerbsminderungsrente, Versorgung mit Hilfsmitteln und so weiter. Selbst für Betroffene von bekannten Volkserkrankungen, zum Beispiel Bluthochdruck oder Diabetes, kommt es in den Bereichen zu Verzögerungen mit dem Unterschied, dass ME/CFS-Betroffene häufig nicht die Energie aufbringen können, sich durch die Berge an Widersprüchen zu arbeiten und fristgerecht Dokumente einzureichen. Ein unterstützendes Netzwerk fehlt auch hier oft. Laut Konsensuspapier erlebten 20 % der Betroffenen sogar eine irreversible Zustandsverschlechterung durch Rentenverfahren, die dadurch frühzeitig abgebrochen werden mussten. Und selbst wenn die Verfahren abgeschlossen werden, verlieren über drei Viertel der Betroffenen [3].
„Viele Betroffene in Österreich haben große Schwierigkeiten, Reha- oder Pflegegeld zu erhalten, weil Gutachter/-innen ihre Symptome nicht ernst nehmen. Zwischen Gutachten und Realität klafft oft eine große Lücke – fachliche Expertise zu ME/CFS fehlt meist. Statt sachlicher Argumente wird oft persönlich gewertet. Ich bin Arzt und halte es aus, wenn jemand mich in einem Gutachten als Trottel darstellt, aber im Sinne der Betroffenen sollten Objektivität und Fachwissen selbstverständlich sein – niemand sollte über ein Krankheitsbild urteilen, das er oder sie nicht wirklich kennt“, fordert Stingl. Das sind auch keine „Einzelfälle“, wie Gutachter/-innen es oftmals darstellen. Eine kürzlich durchgeführte Recherche von Dossier in Österreich zeigte: „In nur knapp 44 % aller Gutachten wurden Befunde über die Erkrankungen bei der Beurteilung berücksichtigt. Als Hauptdiagnose erkannten Gutachter/-innen ME/CFS oder Post COVID in 28 von 124 Fällen (22,6 %) an.“ Sie schreiben weiter: „ME/CFS und Post COVID werden oft ignoriert. Stattdessen diagnostizieren die Gutachter/-innen psychische Erkrankungen.“ [24] Dadurch bleibt den Betroffenen jede Hilfe verwehrt.
Die Lebensqualität von ME/CFS-Betroffenen ist laut Studien noch deutlich unter der von Menschen mit COPD, Multipler Sklerose, Rheumatoider Arthritis oder Schlaganfall [2]. Eine andere Statistik misst die „verlorenen Jahre“ von ME/CFS gegenüber anderen schweren Erkrankungen wie Epilepsie, Parkinson oder HIV. Auch hier schneidet ME/CFS am schwerwiegendsten ab: mit 158.000 verlorenen Lebensjahren in Deutschland [2].
Die Verbesserung der Versorgung von ME/CFS-Betroffenen war im Koalitionsvertrag 2021 enthalten. Dort wurde festgehalten, dass es ein deutschlandweites Netzwerk von Kompetenzzentren geben wird. Mit den neuen Bundestagswahlen ist die Situation wieder unsicherer. Laut Fatigatio e.V. nahmen nur 2 Parteien Bezug auf ME/CFS: Die Grünen und die Linke [25]. Im Koalitionsvertrag der CDU/CSU und SPD ist ME/CFS und Long COVID an 2 Stellen erwähnt: Die Forschung soll verstärkt werden und die Versorgung verbessert [26]. Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS hingegen fordert unter anderem: Grundlagenforschung zur Aufklärung der Krankheitsursache, Therapieforschung zur Verbesserung der Behandlung, eine flächendeckende Versorgung und eine bessere Aufklärung über die Erkrankung. „Unsere dringendste Forderung ist die Einrichtung spezialisierter medizinischer und interdisziplinärer Anlaufstellen in jedem Bundesland, um die individuellen Bedürfnisse von ME/CFS-Betroffenen und deren Angehörigen gezielt zu erfüllen“, schließt sich Millions Missing Deutschland an. #MillionsMissing ist eine internationale Bewegung, die sich für die Millionen Menschen einsetzt, die durch ME/CFS aus dem gesellschaftlichen Leben verschwunden sind – aus Schulen, Universitäten, Arbeitsplätzen und sozialen Aktivitäten. „Von der Politik fordern wir die Einrichtung einer interfraktionellen Arbeitsgruppe, die sich kontinuierlich mit den Belangen von ME/CFS-Betroffenen auseinandersetzt. Zudem erwarten wir die Umsetzung der im Koalitionsvertrag (2021) angekündigten Kompetenzzentren für ME/CFS und Long COVID.“ Die Organisation wendet sich außerdem neben Politik auch an Medienvertreter/-innen: „Von den Medien wünschen wir uns eine Berichterstattung, die den Ernst der Lage widerspiegelt. Es ist entscheidend, dass die faktrale Versorgungslage – also die faktisch nicht vorhandene medizinische Versorgung – klar benannt wird. Wir bitten darum, die Stimmen der Betroffenen einzubeziehen und die systemischen Versäumnisse sichtbar zu machen. Dabei ist eine Sprache von hoher Bedeutung, die die Erkrankung nicht bagatellisiert, sondern die Schwere und Komplexität von ME/CFS angemessen darstellt.“
Millions Missing steht hier aber nicht nur für die vielen Menschen, die aufgrund ihrer Erkrankung in dunklen Räumen liegen, nicht fähig sind, mit der Außenwelt zu kommunizieren, sondern auch für die, die den Kampf verloren haben. Denn manche Betroffenen versterben an Folgen von ME/CFS oder entscheiden sich dazu, ihr Leben zu beenden. Mittlerweile gibt es mehrere Studien, die feststellen, dass die Belastung für die mentale Gesundheit so hoch ist, dass mehr als zwei Drittel der Betroffenen Suizidgedanken entwickeln [27]. Eine weitere Studie spricht von einer kürzeren Lebenserwartung durch Herzversagen, Krebs und eben auch Suiziden [3].
Doch ein wenig Hoffnung gibt es für die Zukunft. Für Kinder und Jugendliche sollen bald übergreifende Netzwerke mit Anlaufstellen für Long COVID und ME/CFS aufgebaut werden. Und auch im Bereich Forschung tut sich derzeit vieles. „Wir sind noch lange nicht da, wo wir sein müssten – aber ein erster Schritt ist getan. Seit 2022/23 hat sich in der Forschung endlich etwas bewegt, und wir sehen nun erste Ergebnisse klinischer Studien: vielversprechende diagnostische Marker und erste therapeutische Ansätze, die tatsächlich Wirkung zeigen. Noch gibt es viele Fragezeichen, doch angesichts der kurzen Zeit und der erstmaligen öffentlichen Investitionen in etwas größerem Umfang ist das ein ermutigender Anfang“, sagt Heydecke.
Fazit: Eine stille Gesundheitskatastrophe braucht laute Antworten
Es scheint, als wären wir auf dem richtigen Weg, aber noch lange nicht am Ziel. ME/CFS war bereits vor der Coronapandemie eine weit verbreitete Erkrankung – mit Millionen von Betroffenen weltweit, die oft jahrelang auf eine Diagnose warteten oder gar nicht erst ernst genommen wurden. Die Pandemie hat dieses Problem nicht nur verstärkt, sondern auch sichtbarer gemacht. Dennoch fehlt es nach wie vor an spezialisierten Anlaufstellen, an breiterer Forschung und an gesellschaftlicher wie medizinischer Anerkennung.
Dass eine Erkrankung mit derart gravierenden Auswirkungen auf Lebensqualität, Arbeitsfähigkeit und Teilhabe nicht längst ganz oben auf der gesundheitspolitischen Agenda steht, ist Ausdruck struktureller Vernachlässigung. Umso dringlicher ist es, die gesundheitliche Versorgung von ME/CFS-Betroffenen endlich auszubauen – mit flächendeckender ärztlicher Weiterbildung, Investitionen in Forschung und mit einem Versorgungssystem, das auch die schwersten Verläufe mitdenkt. Denn wer die Pandemie wirklich hinter sich lassen will, darf die Menschen, für die sie nie aufgehört hat, nicht vergessen. Josefine und ihre Familie stehen hier repräsentativ für die vielen Tausend Menschen, die von einem Tag auf den anderen all das verloren haben, was sie sich zuvor hart erarbeitet haben. Mittlerweile ist auch Samiras kleine Schwester nach mehreren Infektionen chronisch krank. Auch bei ihr lautet der Verdacht ME/CFS. Und so bleibt der Familie nur zu hoffen, dass sich die politische und medizinische Ignoranz endlich in Verantwortung verwandelt – damit Samira, ihre Schwester und all die anderen Betroffenen nicht länger im Schatten eines Systems leben müssen, das ihre Existenz bis heute verleugnet. Und an der Stelle sind vor allem medizinische Fachkräfte gefragt. „Medizinische Fachkräfte rufen wir dazu auf, ME/CFS als schwere körperliche Erkrankung anzuerkennen. Wir wünschen uns Interesse, Empathie und die Bereitschaft zur Fortbildung. Es ist essenziell, dass sich medizinisches Personal über die spezifischen Anforderungen von ME/CFS informiert, sich vernetzt und gemeinsam an einer besseren Versorgung arbeitet“, endet Millions Missing.
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Entnommen aus MT im Dialog 9/2025
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