Das Weißbuch wird vom IGES Institut herausgegeben und ist in Zusammenarbeit mit renommierten Experten entstanden. Ziel des Buches war, eine umfassende Analyse der aktuellen Situation und Entwicklungsfelder in der Nuklearmedizin (NUK) zu identifizieren. Abgeleitet werden sollten dann praktikable Handlungsempfehlungen für die Integration und Optimierung nuklearmedizinischer Verfahren in die klinische Praxis. Dass die NUK vor einer Revolution steht, zeigte Prof. Dr. Ken Herrmann, Direktor der Klinik für Nuklearmedizin am Universitätsklinikum Essen und Weißbuch-Autor, bei der Launch-Pressekonferenz auf. Mehr als 200 Phase I bis III Studien wurden mit nuklearmedizinischem Schwerpunkt bereits auf den Weg gebracht. Darunter seien auch viele kleinere und mittelständische Unternehmen. Die Anzahl der Tumoren, die ins Blickfeld geraten, steige. Aktuell liege der Schwerpunkt bei den GU Tumoren (urogenitale), GI Tumoren (gastrointestinale) und Brust- sowie Lungenkarzinomen. Entsprechend groß fällt das erwartete Umsatzwachstum aus. Es werde davon ausgegangen, dass allein die Radioligandentherapie (RLT) von 2013 bis 2026 ihr Volumen verzehnfache. So rechnet Herrmann vor, dass allein für Prostatakrebs bei etwa 10.000 Patienten mit 4 bis 6 Zyklen hierzulande 40.000 bis 60.000 Therapien nötig wären.
Nuklearmedizinische Behandlungskapazitäten sichern
Radioligandentherapien erfolgen unter strikten Strahlenschutzvorschriften in Kliniken. Allerdings werden seit Jahren stationäre Behandlungskapazitäten abgebaut, was dem absehbaren neuen Angebot an innovativen Therapien entgegenläuft, betont das Weißbuch: Gab es im Jahr 2010 noch 921 nuklearmedizinische Betten, waren es 2022 nur noch 748. Dies entspricht 0,9 Betten pro 100.000 Einwohner. Zum Vergleich: Die Rheumatologie mit ähnlich hohen Fallzahlen weist 1,4 Betten pro 100.000 Einwohner auf. Zudem bieten nur 60 der 92 nuklearmedizinischen Fachabteilungen neben Diagnostik auch Radioligandentherapien an (Stand: 2023).
Gründe für diese rückläufige Entwicklung seien die früher eher geringe Bettenauslastung, fehlende Investitionen, aber auch zunehmend strengere Strahlenschutzauflagen und nicht zuletzt aktuell der Fachkräftemangel, um überhaupt entsprechende Abteilungen betreiben zu können. „Eine reine Umverteilung bestehender nuklearmedizinischer Ressourcen wird dem steigenden Bedarf nach radiopharmazeutischer Diagnostik und Therapie nicht gerecht. Um bestehende Strukturen zu erhalten und auszubauen benötigen wir eine spezielle Förderkategorie für nuklearmedizinische Einrichtungen im Rahmen der Krankenhausfinanzierung“, sagt Herrmann. Es gehe zunächst darum, nicht weiter Kapazitäten abzubauen, sondern z.B. den Durchsatz zu erhöhen.
Zugangshürden für Patienten überwinden
Es wird im Weißbuch aufgezeigt, dass die RLT für viele Patienten derzeit schwer zugänglich ist, vor allem aufgrund unzureichender Erstattungsregelungen für notwendige nuklearmedizinische Bildgebung. So sind zur Therapieplanung, aber auch zur Verlaufskontrolle Untersuchungen etwa mittel Positronen-Emissions-Tomografie (PET) unerlässlich, die wiederum meist nur stationär erstattet werden. Auch sind die für die Diagnostik notwendigen radioaktiven Markierungssubstanzen (Tracer) teilweise nicht erstattungsfähig. So sei eine Sachkostenpauschale lediglich nur für 68Ga-markierte Radiotracer gegeben, betont Prof. Dr. Christian la Fougère, Ärztlicher Direktor der Abteilung Nuklearmedizin und Klinische Molekulare Bildgebung am Universitätsklinikum Tübingen, und ebenso Mitautor. Doch gerade diese müssten vor Ort hergestellt werden, was selten wirtschaftlich möglich sei. Dies führe zur Benachteiligung kleinerer Einrichtungen und ländlichen Regionen. Neue 18F-markierte PSMA-Tracer mit einer längeren Halbwertszeit seien für die Indikationsstellung der RLT zurzeit noch nicht zugelassen und nicht im EBM berücksichtigt. Das SPECT/CT als alternative Diagnostikmethode sei derzeit nur sehr eingeschränkt einsetzbar. So sei der99mTc-PSMA-Tracer bislang nicht zugelassen und nicht im EBM-Leistungskatalog geführt.
Erweiterte Kostenübernahme ambulanter Diagnostik
„Eine erweiterte Kostenübernahme ambulanter nuklearmedizinischer Diagnostik würde eine wohnortnahe Versorgung ermöglichen und gleichzeitig vorhandene Ressourcen in Krankenhäusern und nuklearmedizinischen Praxen effizienter nutzen“, erläutert la Fougère. Das Weißbuch betont für den Patientenzugang zudem die Schlüsselrolle der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung (ASV), die als Schnittstelle zwischen der klassischen ambulanten und der stationären Versorgung fungiert. Sie wurde konzipiert, um Patienten mit komplexen, schwerwiegenden oder seltenen Erkrankungen eine spezialisierte, interdisziplinäre Behandlung zu ermöglichen.
Die Verfügbarkeit der ASV-Teams variiert regional jedoch erheblich. Besonders in einigen Regionen im Norden und Osten Deutschlands sind kaum bis keine ASV-Teams vorzufinden. Der erhebliche bürokratische Aufwand und die regional sehr heterogenen Anforderungen an ASV tragen maßgeblich zum Mangel an ASV-Strukturen bei, analysiert das Weißbuch. „Eine Stärkung und Ausweitung der ASV-Strukturen könnten wesentlich dazu beitragen, die Versorgungslücke zwischen ambulanter Diagnostik und stationärer Therapie bei der Radioligandentherapie zu schließen, solange noch keine flächendeckende nuklearmedizinische Regelversorgung existiert“, erläutert Mediziner la Fougère.
Produktionsressourcen werden zum Problem
Ein wichtiges Thema beim Ausbau der Anwendungen sei die Stärkung der deutschen und europäischen Ressourcen, so Herrmann. Sie sei auf eine komplexe Logistik angewiesen. Durch den absehbaren Ausbau der Anwendungsmöglichkeiten könne der Aufbau weiterer Produktionsmöglichkeiten sinnvoll sein. So sei der Forschungsreaktor in Garching, der zur Produktion von 177Lu geeignet wäre, aktuell nicht betriebsfähig. Um die künftige Versorgungssicherheit mit 177Lu zu gewährleisten, käme z.B. eine Reaktivierung der Forschungs-Neutronenquelle Heinz Maier-Leibnitz (FRM II) in Garching oder der europaweite Ersatz der alternden Forschungsreaktoren durch moderne Anlagen und innovative Technologien in Betracht. Herrmann betont auf Nachfrage, dass sich Deutschland schwer tun werde, hier für Ersatz zu sorgen. Die Dringlichkeit sei noch nicht dort, wo die NUK es gerne hätte. Und auch la Fougère setzt eher auf europäische Partner. Die Akzeptanz und das Verständnis sei in der deutschen Bevölkerung nicht da.
„Eine zukunftsfähige nuklearmedizinische Versorgung erfordert gemeinsame Anstrengungen aller Akteure im Gesundheitswesen - von Politik und Kostenträgern über medizinische Fachgesellschaften bis hin zu Patientenorganisationen. Nur durch vorausschauende Planung und die Überwindung sektoraler Grenzen können wir sicherstellen, dass innovative nuklearmedizinische Therapien allen Patienten zugänglich werden, die davon profitieren können“, fasst Dr. Norbert Gerbsch, Leiter Public Affairs am IGES Institut, die Erkenntnisse des Weißbuchs zusammen.
Über das Weißbuch: Das Werk informiert über den aktuellen Stand der nuklearmedizinischen Diagnostik und Therapie und gibt Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen. Es entstand in Zusammenarbeit mit Experten aus klinischer Praxis, Krankenkassen und Patientenvertretung. Herausgeber ist das IGES Institut. Das Unternehmen Novartis Pharma GmbH hat das Projekt finanziell unterstützt.
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