Überlange Arbeitszeiten gefährden die Gesundheit
Die von der Bundesregierung angeführten Ziele – wirtschaftliche Impulse, Interessen von Beschäftigten an Flexibilität und Erhalt des Arbeitsvolumens trotz demografischen Wandels – lassen sich durch weiter deregulierte Arbeitszeiten nicht erreichen, warnen Dr. Amélie Sutterer-Kipping und Dr. Laurens Brandt vom Hugo Sinzheimer Institut für Arbeitsrecht (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Denn erstens könne eine weitgehende Lockerung der täglichen Arbeitszeit bestehende gesundheitliche Probleme in der Erwerbsbevölkerung verschärfen, was das Arbeitspotenzial schwächt, statt stärkt. Zweitens würde sich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie weiter verschlechtern, was insbesondere die Teilnahme von Frauen am Erwerbsleben einschränken würde.
Arbeitsvolumen auf Rekordniveau
Die Zahlen der abhängig Beschäftigten beziehungsweise der Erwerbstätigen erreichten nach aktuellen Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Jahr 2023 mit einem Jahresdurchschnitt von 42,2 beziehungsweise 46,0 Millionen Personen Höchststände. Auch das Gesamtarbeitszeitvolumen verzeichnete Rekordwerte. Insgesamt haben abhängig Beschäftigte in Deutschland 2023 rund 54,59 Milliarden Stunden geleistet, während es 1991 noch 52,20 Milliarden Stunden waren. Inklusive des Arbeitszeitvolumens der Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen stieg das Arbeitszeitvolumen der Erwerbstätigen 2023 sogar auf 61,44 Milliarden Stunden.
Im Jahr 2024 blieben beide Größen sehr nahe an diesen Rekordwerten: Die Zahl der Erwerbstätigen stieg noch einmal minimal an, das Arbeitsvolumen der Erwerbstätigen ging geringfügig um 0,1 Prozent auf 61,37 Milliarden Stunden zurück. Die gestiegene Erwerbstätigenzahl und das gestiegene Arbeitszeitvolumen sind wesentlich darauf zurückzuführen, dass heute mehr Frauen einer Erwerbstätigkeit nachgehen. So ist die Erwerbsquote von Frauen zwischen 1991 und 2022 um 16 Prozentpunkte auf 73 Prozent gestiegen.
„Die Entwicklung der Arbeitszeit zeigt, dass wir uns zunehmend weg vom traditionellen Alleinverdienermodell zu einem Zweiverdienerhaushalt hinbewegen“, analysieren Sutterer-Kipping und Brandt. Dementsprechend steigt das Gesamtarbeitszeitvolumen insgesamt, während die durchschnittlichen Jahresarbeitszeiten gesunken sind. Die durchschnittlich geleistete Arbeitszeit der Beschäftigten lag laut IAB 1991 noch bei rund 1.478 Stunden und im Jahr 2023 bei 1.295 Stunden. Der Rückgang ist stark auf die kontinuierlich gestiegenen Teilzeitquoten zurückzuführen.
Knapp ein Drittel der Beschäftigten arbeitete 2023 in Teilzeit, unter den erwerbstätigen Frauen sogar fast jede zweite. Rechnerisch senkt das die durchschnittliche Jahresarbeitszeit pro Kopf, was zu einer im europäischen Vergleich relativ geringen durchschnittlichen Arbeitszeit aller Beschäftigten von 34,7 Stunden pro Woche führt.
Geltendes Recht sorgt für erhebliche Flexibilität
Den Arbeitgebern ermöglicht hingegen schon die geltende Rechtslage eine erhebliche Flexibilität, betonen die HSI-Expertinnen und -Experten. Der Acht-Stunden-Tag sei zwar seit 1918 eine Konstante im Arbeitszeitrecht, gleichwohl sei ohne weitere Voraussetzung eine deutliche Verlängerung möglich. So könne die Arbeitszeit ohne Rechtfertigung auf bis zu zehn Stunden täglich ausgeweitet werden, wenn innerhalb von sechs Monaten ein Ausgleich erfolgt, also die durchschnittliche Arbeitszeit von acht Stunden werktäglich nicht überschritten wird.*
Darüber hinaus lasse das geltende Arbeitszeitgesetz zahlreiche branchen- beziehungsweise tätigkeitsbezogene Abweichungen und Ausnahmen durch Tarifvertrag, aufgrund eines Tarifvertrages in einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung oder durch behördliche Erlaubnis zu, wobei im Regelfall ein entsprechender gewährleistet sein müsse. Das erklärt, warum zum Beispiel in Krankenhäusern längere Arbeitszeiten als acht beziehungsweise zehn Stunden möglich sind.
Stressbedingte und körperliche Erkrankungen
Trotz aller bereits bestehender Flexibilisierungsmöglichkeiten: Dass der Erwerbs-Arbeitstag im Prinzip nach acht Stunden enden soll, sei kein Zufall, sondern Ergebnis wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Gesundheitsschutz. Die Einführung einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit würde aber faktisch nach Abzug der Mindestruhezeit von 11 Stunden und der entsprechenden Ruhepause von 45 Minuten eine tägliche Höchstarbeitszeit von 12 Stunden und 15 Minuten ermöglichen. Eine Begrenzung der täglichen Arbeitszeit fände dann nur durch die Mindestruhezeiten und Ruhepausen statt.
Arbeitsmedizinisch sei längst erwiesen, dass Arbeitszeiten von mehr als acht Stunden die Gesundheit gefährden. Langfristig kommt es häufiger zu stressbedingten Erkrankungen, sowohl zu psychischen Leiden wie vermehrtes Auftreten von Burn-out-Symptomatik, physischen und psychischen Erschöpfungszuständen, als auch zu körperlichen Erkrankungen, etwa Schlaganfälle, Diabetes und erhöhtes Krebsrisiko.
Steigendes Unfallrisiko
Neben höheren Krankheitsrisiken zeigen arbeitsmedizinische Erkenntnisse auch negative Zusammenhänge zwischen langen werktäglichen Arbeitszeiten und dem Unfallgeschehen am Arbeitsplatz. Das Unfallrisiko steigt ab der achten Arbeitsstunde exponentiell an, sodass Arbeitszeiten von mehr als 10 Stunden täglich als hoch riskant eingestuft werden.
Prof. Dirk Windemuth, Leiter des Instituts für Arbeit und Gesundheit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (Institut für Arbeit und Gesundheit), bestätigt diese Einschätzung: „: Nur in Ausnahmefällen sollte mehr als acht Stunden am Tag und regelmäßig nicht mehr als 40 Stunden pro Woche gearbeitet werden. Pausen müssen eingehalten werden. Die vorgeschriebene dreißigminütige Pause nach acht Stunden sollte ergänzt werden um wenige, über den Arbeitstag verteilte Pausen, die jeweils fünf Minuten dauern. Hinzu kommt aber ein wichtiger Punkt, der bislang in der Praxis beim flexiblen Arbeiten nicht ausreichend beachtet wird: die Ruhezeit. Das ist die Zeit zwischen Arbeitsende und Arbeitsbeginn. Diese sollte auch nach dem Arbeitszeitgesetz elf Stunden betragen.“
„Wir arbeiten seit vielen Jahren sehr effizient“
Das RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung vertritt ebenfalls die Ansicht, dass im europäischen Vergleich eine in Deutschland geleistete Arbeitsstunde einen überdurchschnittlich hohen Wert schafft. „Wir arbeiten seit vielen Jahren sehr effizient. Würden wir mehr arbeiten, könnte das die Wirtschaftsleistung vermutlich steigern – dafür braucht es keine Studie. Aber ist das wirklich das Kernproblem? Oder ist die Frage nach dem ,Mehr arbeiten‘ nur ein politisches Ablenkungsmanöver von tieferliegenden strukturellen Problemen? Viel schwieriger ist die Frage zu beantworten, was uns davon abhält, mehr zu arbeiten.“
Eine Vielzahl weiterer Fakten hat Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in einem LinkedIn-Beitrag zusammengestellt: Laut Weber hat die „Generation Z“ die höchste Erwerbsbeteiligung seit Jahrzehnten – mehr Menschen teilen sich also die Arbeit untereinander auf, was man durchaus als einen Trend zu mehr Fairness interpretieren könne. Überstunden gehen zurück, aber nur scheinbar. Denn sie landen mittlerweile häufig auf Arbeitszeitkonten und tragen, so Weber, zur Flexibilisierung der Arbeitszeiten bei. Nur der Krankenstand nimmt zu – und bei genauerem Hinsehen ist das Weber zufolge wohl hauptsächlich ein statistischer Effekt der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung: „Früher gab es eine Dunkelziffer, heute wird jede Krankschreibung digital erfasst.“
Quellen: idw, DGUV
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