Vergessene Entdeckerin der Trisomie 21
Professor Raymond Turpin leitete 1956 die Pädiatrische Abteilung des Troisseau-Hospitals. Hier fand Marthe Gautier eine Stelle, nachdem sie aus Boston nach Paris zurückgekehrt war. In seiner Geschichte der Zytogenetik berichtet Peter Harper über Turpins Arbeit: Bereits 1937 hatte er vermutet, dass das Down-Syndrom durch eine chromosomale Anomalie verursacht werden könnte; 1941 führte er das Fach Genetik in die medizinische Lehre ein. 1956 kehrte Turpin vom Internationalen Humangenetik-Kongress in Kopenhagen zurück. Bis dahin hatte man die Zahl menschlicher Chromosomen auf 48 beziffert. Joe Hin Tijo arbeitete am Institut für Genetik der Universität Lund. Als Sohn chinesischstämmiger Eltern auf Java geboren, kam er 1946 nach Schweden und erforschte zunächst die Zytogenetik von Pflanzen. In Lund lernte er den Botaniker und Genetiker Johan Albert Levan kennen – er leitete das Labor, in dem Tijo 1956 die korrekte Zahl von 46 menschlichen Chromosomen entdeckte. Im Interview mit Randy Engel berichtete Gautier 2013, Turpin habe ihr gegenüber beklagt, dass es in Frankreich keine Labore gab, die über das Instrumentarium verfügten, das man für die Analyse von Gewebekulturen benötigt. In Großbritannien und Schweden hatte der Wettlauf um die Erforschung der Ursachen genetisch bedingter Krankheiten bereits begonnen. Erstaunlicherweise, so Gautier, erregte dieses Gebiet bei US-amerikanischen Forschern wenig Interesse. „Es berührte mich seltsam“, sagte Gautier, „dass hier ein Mann sprach, der nahezu 20 Jahre zuvor eine genetische Hypothese für die Entstehung des Down-Syndroms vorgeschlagen, aber seitdem nichts unternommen hatte, um seine Theorie zu überprüfen. Seine Arbeit auf dem Gebiet der Genetik konzentrierte sich auf Statistik und die wissenschaftliche Untersuchung von Fingerabdrücken (Dermatoglyphen), Linien und Formen von Händen. Bei chromosomalen Störungen wie Down- und Turner-Syndrom finden sich hier ungewöhnliche Muster.“ Gautier, 31 Jahre jung, entschied spontan, auf diesem Gebiet zu arbeiten. In einem kleinen Labor auf dem Klinikgelände wollte sie als Erste zeigen, wie es sich mit der Chromosomenzahl beim Down-Syndrom verhielt: „Ich hatte bereits Erfahrung mit Gewebekulturen, das ist ziemlich einfach. Auch in der Färbung von Präparaten kannte ich mich aus. Sicher waren Anpassungen erforderlich, aber ich war eifrig und entschlossen.“
Stipendium in den USA
Marthe Gautier wurde 1925 in Montenils, Département Seine-et-Marne, geboren. Die Familie hatte immer in der Île de France-Region nicht weit von Paris gelebt. „Wir können unsere Vorfahren mehr als 400 Jahre zurückverfolgen“, sagte sie. „Ursprünglich war unsere Familie bekannt für ihre ‚Bader und Wundärzte‘. Viele Jahre später heiratete eine meiner Vorfahren einen Landwirt, so wurden wir Bauern.“ Gautier war die fünfte von sieben Kindern, vier Mädchen und drei Jungen. Zwei ihrer Brüder wurden Landwirte, zwei Schwestern heirateten Landwirte, ihr jüngster Bruder wurde Tierarzt. Marthes ältere Schwester Paulette studierte als Erste in der Familie Humanmedizin. Mit 17 Jahren folgte Marthe ihrer Schwester an die Medizinische Fakultät in Paris. Früh entschied sie sich für das Fach Pädiatrie. 1944 – die deutschen Truppen zogen sich bereits aus Frankreich zurück – starb ihre Schwester. Damit verlor Gautier ihre Mentorin, doch sie setzte ihr Studium fort und legte 1950 ihr Examen ab. In diesem Jahr begannen 80 Männer und lediglich zwei Frauen ihr „Internat“ in Pariser Kliniken. In den folgenden vier Jahren absolvierte Gautier in verschiedenen Abteilungen ihre Ausbildung zur Kinderärztin. „Es war eine wundervolle Erfahrung“, kommentierte sie diese Zeit. Danach promovierte sie bei Robert Debré. Er war seit 1940 Professor für Kinderheilkunde und leitete das Necker-Enfants Malades-Hospital. Während des Zweiten Weltkriegs musste er als Jude und wegen seiner Kontakte zum Widerstand gegen die deutsche Besatzung untertauchen, nach dem Zweiten Weltkrieg gründete er mit anderen das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF). Gautiers Arbeit hatte „tödliche Verläufe des rheumatischen Fiebers bei Kindern“ zum Thema und fokussierte besonders auf die kardialen Komplikationen der Erkrankung, die durch Streptokokken verursacht wird. Debré schlug Gautier für ein einjähriges Stipendium in den USA vor. An der Harvard Medical School in Boston machte sie sich mit der Kinderkardiologie vertraut und hospitierte bei Alexander Nadas, einem Pionier der chirurgischen Behandlung angeborener Herzfehler bei Neugeborenen. Zudem eignete sie sich Fertigkeiten in der Analyse von Zellkulturen an. Neben ihrer Arbeit hatte sie Gelegenheit, das Land zu bereisen.
Entdeckung der Trisomie 21
Nach dem Jahr in Boston rechnete sie mit einer Stelle in der Kinderkardiologie des Bicêtre-Krankenhauses in Paris, doch die Stelle war zwischenzeitlich mit einem Kollegen besetzt worden. So begann Gautier ihre Arbeit in der Pädiatrischen Abteilung des Troisseau-Hospitals. Über ihren Arbeitsplatz sagte sie: „Mir wurde ein kostenloser Laborplatz im Parrot-Gebäude zur Verfügung gestellt, sodass ich mir keine Sorgen um Wasser, Gas und Strom machen musste, und es gab (…) einen Kühlschrank, eine Zentrifuge und einen leeren Schrank, aber das war auch schon alles. Anfangs habe ich allein gearbeitet. Es gab keine Finanzierung. Also nahm ich einen Kredit auf, um die notwendigen Geräte und Vorräte zu kaufen, von denen einige in Paris nicht einmal im Handel erhältlich waren. Leider stand in diesem Ex-Labor, anders als den wunderbar ausgestatteten Forschungseinrichtungen in Harvard, kein Lichtmikroskop zur Verfügung, um Bilder von meinen Dias zu machen, sondern nur ein Mikroskop mit niedriger Auflösung.“
Turpin nahm Gautier zufolge keinen besonderen Anteil an ihrer Arbeit, aber Dr. Jérôme Lejeune besuchte sie regelmäßig in ihrem provisorischen Labor. Er war etwa so alt wie Gautier, leitete am Krankenhaus die Ambulanz für Down-Syndrom-Patienten und arbeitete für das Nationale Zentrum für wissenschaftliche Forschung (CNRS), die größte staatliche Forschungsorganisation Frankreichs. Im Juli 1957 legte Gautier die ersten Gewebekulturen von Kindern ohne genetische Anomalie an und „die Anzahl der Chromosomen war immer gleich: 46 (…). Ich ging daher davon aus, dass meine Technik perfekt funktioniert“. Sie bat Turpin, ihr eine Gewebeprobe eines Patienten mit Down-Syndrom zur Verfügung zu stellen. Aus Gründen, die sie nicht nachvollziehen konnte, sei diese Probe erst im Mai 1958 bei ihr angekommen. Etwas abgewandelt wandte Gautier „das Prinzip des hypotonischen Milieus an, mit dem Tijo und Levan zu ihren Ergebnissen gekommen waren, aber auf Grundlage von Serum, um die Zellmembran nicht zu zerreißen. Dann ließ ich die Objektträger trocknen, bevor ich sie färbte. (…) So befinden sich meine schönsten Präparate in der Prometaphase, ohne Riss der Zellmembran, was eine genaue Zählung mit sehr schönen länglichen Chromosomen ermöglicht, leicht zu vergleichen und ohne Brüche.“ Die Mühe lohnte sich: „Ich zählte 47 Chromosomen auf den ersten Mitosen, die ich aus der Down-Syndrom-Probe erhielt, und entdeckte damit die erste autosomale Chromosomenaberration in Zellen der menschlichen Spezies – Trisomie 21. Allerdings hatte ich kein Lichtmikroskop, um das 47ste kleine Fragment zu identifizieren.“ Zu diesem Zeitpunkt habe Lejeune angeboten, ihre Objektträger in ein anderes Labor zu bringen und sie dort fotografieren zu lassen. Laut Gautier gab er ihr die Fotos nicht wie versprochen zurück; als sie ihn danach fragte, habe er geantwortet, Turpin halte sie unter Verschluss.
Lejeune veröffentlichte die Ergebnisse
Im Oktober 1958 fand an der kanadischen McGill University ein Seminar statt. Hier gab Lejeune die Entdeckung der Trisomie 21 bekannt – Gautier zufolge präsentierte er ihre Ergebnisse, als wären es seine eigenen. Von da an sei ihre Entdeckung immer mit dem Namen Lejeune verbunden gewesen. Nach der Untersuchung weiterer Fälle publizierten Lejeune und Turpin Gautiers Entdeckung in den „Comptes rendus de l’ Académie des sciences“. Als Autoren wurden, in dieser Reihenfolge, Jérôme Lejeune, Marthe Gauthier (mit mindestens fehlerhaft geschriebenem Nachnamen) und Raymond Turpin genannt. Die rasche Publikation war offenbar dem Umstand geschuldet, dass britische Wissenschaftler an ähnlichen Themen forschten. 1959 folgten zwei weitere Veröffentlichungen in den „Comptes rendus“ und eine vierte im „Bulletin of the National Academy of Medicine“. „Auf diese Weise trat Lejeune als Entdecker des zusätzlichen Chromosoms beim Down-Syndrom ins Rampenlicht der Medien, obwohl er in Wirklichkeit nichts mit der Entdeckung zu tun hatte“, sagte Gautier dazu. Die Frage, ob Lejeune später versucht habe, sein Verhalten zu korrigieren und Gautiers Entdeckung anzuerkennen, verneinte sie: „Nein. Nie. (…) Lejeune und Turpin veröffentlichten weiterhin Arbeiten über Trisomie 21, und mein Name wurde nach und nach aus der Autorenliste gestrichen.“
Die Bezeichnung „Down-Syndrom“ geht auf John Langdon Down (1828–96) zurück. 1866 fielen ihm die typischen Symptome und Stigmata von Menschen mit Trisomie 21 auf. Er grenzte sie von einer größeren Gruppe oligophrener Patienten ab und beschrieb sie als „mongoloide Idiotie“ („Mongolian type of idiocy“). Dabei nahm er an, dass bei der Entstehung eine ethnische Regression mitgewirkt habe – ein Irrtum, der zugleich als „Diskriminierung der normalen mongoliden Populationen gedeutet werden könnte“ (K.D. Bachmann, R.A. Pfeiffer). Mit zunehmendem Alter der Mutter steigt das Risiko für ein Kind mit Down-Syndrom – Ärzten war bereits aufgefallen, dass Kinder mit Trisomie 21 oft als letzte in der Geschwisterreihe geboren werden. Bei etwa 95 Prozent der betroffenen Kinder ist das Chromosom 21 dreifach statt paarig angelegt – streng genommen handelt es sich um das Chromosom 22, das kleinste des menschlichen Karyotyps, aber nach internationaler Übereinkunft behält man die Bezeichnung „Trisomie 21“ bei. Bei drei Prozent ist ein drittes Chromosom 21 mit einem anderen Chromosom verschmolzen, die Chromosomenzahl ist hier normal. Etwa zwei Prozent weisen eine normale Zelllinie mit 46 Chromosomen und eine mit 47 Chromosomen auf. Diese „Mosaik-Trisomie 21“ kann mit einer sehr diskreten klinischen Symptomatik einhergehen (Bachmann/Pfeiffer).
Gautier sah Lejeune und Turpin von einer Art „Krankheit“ befallen, unter Forschern als „Nobelitis“ bekannt: Beide schienen sich sicher, für die Entdeckung der Trisomie 21 den Nobelpreis zu bekommen, bekamen ihn dann aber nicht. Am Ende verstand Gautier, „dass es unmöglich ist, mit solchen Leuten umzugehen“. Überzeugt, dass man sie hintergangen habe, wandte sie sich wieder den kindlichen Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu. 1966 gründete sie am Hospital Kremlin-Bicêtre das „Département d’anatomo-pathologie des maladies hépatiques de l’enfant“ und wurde dessen Direktorin. 1967 wurde sie „Maître de recherche“ am INSERM (Institut national de la santé et de la recherche médicale), danach dort Direktorin.
Literatur (Auswahl)
- Bachmann KD, Pfeiffer RA: Das Down-Syndrom. In: Deutsches Ärzteblatt 1974; 13: 921–8.
- Harper PS: First Years of Human Chromosomes – The Beginnings of Human Cytogenetics. Banbury: Scion Publishers Ltd 2007.
- Engel R: Randy Engel interview with Dr. Marthe Gautier, discoverer of trisomy 21. In: RenewAmerica. 6. März 2013 (letzter Zugriff am 31.03.2025).
- Lejeune J, Gautier M, Turpin J: Mongolism; a chromosomal disease (trisomy). In: Bull Acad Natl Med 1959; 143: 256–65.
- Tijo JH, Levan A: The chromosome number of man. In: Hereditas 1956; 42: 1–6.
Entnommen aus MT im Dialog 07/2025
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