Mangelnde Patientensicherheit kostet Milliarden Euro

Jahresstatistik des Medizinischen Dienstes zur Behandlungsfehlerbegutachtung
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Das Bild zeigt den Begriff „Behandlungsfehler“, der hervorgehoben ist.
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12.304 fachärztliche Gutachten zu vermuteten Behandlungsfehlern hat der Medizinische Dienst im Jahr 2024 bundesweit erstellt. In jedem vierten Fall (3.301 Fälle) stellten die Gutachterinnen und Gutachter einen Behandlungsfehler mit Schaden fest.

In jedem fünften Fall (2.825 Fälle) war der Fehler ursächlich für den erlittenen Schaden. Das geht aus der aktuellen Jahresstatistik zur Behandlungsfehlerbegutachtung hervor, die der Medizinische Dienst Ende Oktober in Berlin vorgestellt hat. „Unsichere Versorgung hat nicht nur Folgen für die geschädigten Patientinnen und Patienten; sie kostet das Gesundheitssystem Milliarden Euro. Maßnahmen zur Stärkung der Patientensicherheit sind unverzichtbar und gesetzlich verpflichtend umzusetzen“, so der Medizinische Dienst.

„Wenn Behandlungsfehler passieren, werden nicht nur Patientinnen und Patienten geschädigt. Es entstehen auch enorme Kosten im Gesundheitssystem, weil Folgeuntersuchungen, erneute Operationen und Nachbehandlungen notwendig sind. Daher muss es gesundheitspolitisches Ziel sein, die Patientensicherheit zu verbessern“, sagt Dr. Stefan Gronemeyer, Vorstandsvorsitzender des Medizinischen Dienstes Bund. Eine wichtige Maßnahme wäre die Verpflichtung der Ärztinnen und Ärzte und anderer Gesundheitsfachkräfte, Patientinnen und Patienten umgehend zu informieren, wenn bei einer Behandlung etwas schiefgelaufen ist. Zudem sollten systematische Präventionsmaßnahmen umgesetzt werden. Voraussetzung dafür wäre ein obligatorisches, sanktionsfreies Meldesystem für vermeidbare Schadensereignisse, sogenannte Never Events.

Medikamenten- und Seitenverwechslungen, vergessenes OP-Material im Patienten

In der Jahresstatistik 2024 stuften die Gutachterinnen und Gutachter des Medizinischen Dienstes 134 Fälle (2023: 151) als sogenannte Never Events ein. Dazu gehören schwerwiegende Medikationsfehler, unbeabsichtigt im Körper zurückgebliebene Fremdkörper nach Operationen oder Verwechslungen von Patientinnen und Patienten, die zu schweren Schäden führen können. Immer wieder stellt der Medizinische Dienst in seinen Gutachten die gleichen folgenschweren Fehler fest. „Wenn solche Fehler geschehen, dann bestehen Risiken im Versorgungsprozess, denen systematisch nachgegangen werden muss, um sie in Zukunft zu vermeiden und so Schäden an Patientinnen und Patienten zu verhindern“, erklärt Gronemeyer.

Never Events sind für das Erkennen, Umsetzen und Bewerten von Sicherheitsmaßnahmen besonders wichtig und werden daher bereits in vielen Ländern erfolgreich für die Prävention genutzt. In Deutschland steht eine Umsetzung nach wie vor aus. International anerkannte Konzepte zur systematischen Fehlervermeidung sollten auch in Deutschland eingeführt werden. Die Meldung von Never Events dient dem Medizinischen Dienst zufolge ausschließlich der Verbesserung der Patientensicherheit. Sie müsse für die Gesundheitsfachkräfte, die Schadensereignisse melden, sanktionsfrei und pseudonymisiert erfolgen. Das müsse gesetzlich garantiert sein.

Gesundheitsökonomische Auswirkungen unsicherer Versorgung sind enorm

Die Begutachtungszahlen des Medizinischen Dienstes zeigen nur einen sehr kleinen Ausschnitt des tatsächlichen Fehlergeschehens. Die Dunkelziffer liege deutlich höher, da nach wissenschaftlichen Studien davon auszugehen sei, dass nur drei Prozent aller vermeidbaren Schadensfälle nachverfolgt und statistisch erfasst werden.

Überträgt man die Ergebnisse internationaler Studien zur Patientensicherheit auf Deutschland, so werden jedes Jahr fünf Prozent der stationär behandelten Patientinnen und Patienten durch vermeidbare Behandlungsfehler geschädigt. Das wären mehr als 800.000 Betroffene. Die Kosten für erneute Eingriffe, Invalidität, Pflegebedürftigkeit oder gar Tod werden auf 15 Prozent der Krankenhauskosten geschätzt – das entspricht einem Betrag von 15 Milliarden Euro.

„Die ökonomischen Schäden durch vermeidbare unerwünschte Ereignisse und Fehler werden in Deutschland deutlich unterschätzt. Mehr Investitionen in Patientensicherheit sollten als Investition in Qualität, Effizienz und Vertrauen betrachtet werden. Das Unterlassen von Fehlervermeidung kostet ein Vielfaches – in Geld, aber vor allem in vermeidbarem menschlichem Leid“, erläutert Prof. Dr. Reinhard Busse, MPH, Management im Gesundheitswesen, Technische Universität Berlin. 

Vorwürfe bei unterschiedlichsten Eingriffen

In der aktuellen Jahresstatistik des Medizinischen Dienstes beziehen sich zwei Drittel aller erhobenen Behandlungsfehlervorwürfe auf Leistungen in der stationären Versorgung, zumeist in Krankenhäusern (7.960 Fälle). Ein Drittel bezog sich auf den ambulanten Bereich (4.312 Fälle). „Da die meisten Vorwürfe operative Eingriffe betreffen und diese häufig im Krankenhaus erfolgen, werden sie dem stationären und nicht dem ambulanten Sektor zugeordnet“, erläutert Dr. Christine Adolph, Stellvertretende Vorstandsvorsitzende und Leitende Ärztin des Medizinischen Dienstes Bayern.

29,8 Prozent der Vorwürfe (3.664 Fälle) betrafen die Orthopädie und Unfallchirurgie; 11,5 Prozent die Innere Medizin und Allgemeinmedizin (1.402 Fälle); 8,9 Prozent die Frauenheilkunde und Geburtshilfe (1.097 Fälle); 8,4 Prozent die Zahnmedizin (1.040 Fälle) und 7,9 Prozent die Allgemein- und Viszeralchirurgie (971 Fälle). 6,7 Prozent der Vorwürfe bezogen sich auf Pflege (827 Fälle). 26,8 Prozent der Vorwürfe entfielen auf 29 weitere Fachgebiete (3.303 Fälle). In der Jahresstatistik 2024 sind 12.304 Verdachtsfälle zu 1.001 verschiedenen Diagnosen erfasst. Die Vorwürfe betreffen fehlerhafte Behandlungen bei Hüft- und Kniegelenksverschleiß, Knochenbrüchen, Gallensteinen, Zahnwurzelbehandlungen und vieles andere mehr.

Patienten reagieren, wenn Behandlung nicht den Erwartungen entspricht

Die Zahlen der Jahresstatistik sind nicht repräsentativ ─ sie zeigen lediglich die Begutachtungszahlen und -ergebnisse des Medizinischen Dienstes. „Eine Häufung von Vorwürfen in einem Fachgebiet sagt nichts über die Fehlerquote oder die Sicherheit in dem jeweiligen Gebiet aus“, erklärt Adolph. „Dies zeigt vielmehr, dass Patientinnen und Patienten reagieren, wenn eine Behandlung nicht ihren Erwartungen entspricht.“ Fehler bei chirurgischen Eingriffen sind für Patienten in der Regel leichter zu erkennen als zum Beispiel Medikationsfehler, weshalb auch eher Fehler bei Operationen vorgeworfen werden als bei anderen Behandlungen.

Bei knapp zwei Drittel (63 Prozent) der begutachteten Fälle waren die Gesundheitsschäden der Patientinnen und Patienten vorübergehend − eine Intervention oder ein Krankenhausaufenthalt war notwendig. Die Patienten sind jedoch vollständig genesen. Bei einem knappen Drittel der Betroffenen (32 Prozent) wurde ein Dauerschaden verursacht.

Wie international üblich, unterscheiden die Medizinischen Dienste zwischen leichten, mittleren und schweren Schäden. Ein leichter Dauerschaden kann eine geringe Bewegungseinschränkung oder eine Narbe sein. Ein mittlerer Dauerschaden kann eine chronische Schmerzsymptomatik, eine erhebliche Bewegungseinschränkung oder die Störung einer Organfunktion sein. Ein schwerer Dauerschaden liegt vor, wenn Geschädigte pflegebedürftig geworden sind oder sie aufgrund eines Fehlers erblinden oder dauerhafte Lähmungen erleiden. In 2,7 Prozent der vom Medizinischen Dienst begutachteten Fälle (75 Fälle) hat der Fehler zum Tod geführt.

Quelle: Medizinischer Dienst der Krankenkassen

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